"There`s no plan, it had to happen..." - Martins Gamechanger und unsere Begegnung mit dem Tellerrand

Einen denkbar würdigen Platz in der Diskografie in und um Depeche Mode nimmt die "Counterfeit e.p" ein. Es ist das dritte Solowerk eines der Herren. Überhaupt hat uns das Erscheinen und der komplette Inhalt dieser Scheibe damals echt überrascht. 

 

Meist harrten wir nächtelang vorm Radio aus, um bei der Electronics-Nacht von DT64 auch wirklich nichts Wichtiges zu verpassen. Zwischen allerlei zähflüssigem, spacigem Keyboardgedudel von Tangerine Dream, Pantha Rei, Pond oder "Lacky" Lakomy, gelang es uns dann doch, irgendwie die Augen offen zu halten, um dann endlich nachts um halb Vier beim heiß erwarteten Stück von "Recoil" im richtigen Moment die Pausentaste zu lösen und das mitzuschneiden, wo wir sonst nicht ohne weiteres ran kamen. 

Alan hatte bereits 1986 mit seinen gewöhnungsbedürftigen Soundschnipseleien zu „Recoil 1+2“ und zwei Jahre später mit dem etwas melodiöserem und gelungenerem "Hydrology" vorgelegt. Von nun an wollte uns auch Martin an seinen ganz eigenen Gefühlen und seinen persönlichen musikalischen Vorlieben teilhaben lassen.

Dank der nahenden Wende und mittlerweile recht guten "Westbeziehungen" unserer Freunde, blieb uns das nächtliche Radiorendezvous bei der "Counterfeit e.p" erspart. Wenn ich mich recht entsinne, gelangten wir recht schnell in den Besitz der entsprechenden, vielfach überspielten Kassettenkopien.

"Counterfeit" heißt übersetzt soviel wie "Fälschung", was den Charakter einer Coverversionen geradezu präzise auf den Punkt bringt. In lateinamerikanischen Ländern erschien sie gar unter dem Namen "Falsificador".

Für die Nachgeborenen, die sich nicht mehr so gut mit Vinylgrößen und -bezeichnungen auskennen, steht EP für „Extra Play“. Das war in der Regel eine Single (klein) oder auch eine Maxi-Single (groß) mit ein paar zusätzlichen Stücken.

"Counterfeit e.p" wurde damals natürlich auch auf dem fast noch brandneuen Medium CD veröffentlicht. Hier versuchte man sich erstmals an Evolution.

Im Reigen zahlreicher Wiederveröffentlichungen veränderte sich das Cover der CD-Versionen über die Jahre von komplett grün, über zweifarbig, bis hin zu komplett orange. Damit erzielt die CD auch in Sammlerkreisen recht ordentliche Preise. 

Im November 2021 wurde "Counterfeit e.p" dann endlich auch auf Vinyl wiederveröffentlicht.

Trotz, dass es sich um eine "EP" handelt, wird die Platte von der Plattenfirma "Mute Records" selbst als so wichtig eingestuft, dass sie eine eigentlich den Langspielplatten vorbehaltene "Stumm"-Katalognummer (Stumm 67) bekam. 

Alans zwei Recoil-Mini-LPs bekamen diese zwar auch, aber beispielsweise Erasures „Crackers International“-Maxi oder die "ABBA-esque"-EP mussten sich mit einer sonst für Singles verwendeten "Mute"-Benummerung zufrieden geben. Martins letztes Solo-Werk "The Third Chimpanzee" ist nach dieser Lesart ebenfalls "nur" eine Single (12MUTE629)!

Martin präsentiert uns auf der "Counterfeit e.p" Songs und Texte die ihn persönlich inspiriert haben, die aber ohne den dräuenden Bombast-Sound seiner Band auskommen müssen. Reduziert und stilvoll, fast wie Demos. 

Man nenne es Bescheidenheit oder auch Ironie - einer der größten Songschreiber seiner Zeit singt Songs Anderer nach. Es war Martins ureigenster Ausbruch aus dem ihm mittlerweile viel zu engen Bandkorsett. Allein die nahezu zaghafte Interpretation des Eröffnungsstücks "Compulsion" bringt seine Unsicherheit bei diesem Thema zum Ausdruck. Im Laufe der sechs Songs steigert er sich merklich. Die Dramaturgie dieser kurzen, knapp 25-minütigen Platte ist erstaunlich. 


Bei „Compulsion“ handelt es sich um einen Song des Briten Joe Crow aus dem Jahr 1982, der es bis dahin lediglich auf eine Doppel-A-Seiten-Single geschafft hatte. Auf einer CD erschien dieser Songs erstmals 2008 im Rahmen einer Compilation namens „Pillows & Prayers“.

„In A Manner Of Speaking“ stammt von der US-amerikanischen Band "Tuxedomoon" aus dem Jahre 1985. Es ist zu finden auf dem Album "Holy Wars". Deren Debütsingle „No Tears“ von 1978, wurde von Dave im Rahmen des Funkhauskonzertes 2017 in Berlin bei „So Much Love“ zitiert - "no tears for the creatures of the night, no tears..."

Von der Manchester-Factory-Band "The Durutti Column" stammt „Smile In The Crowd“. Der Bandname ist angelehnt an eine Widerstandsgruppe aus dem spanischen Bürgerkrieg, und der Song stammt vom 1983er Album "Another Setting".


Bei den "The Comsat Angels" handelt es sich um eine Band, die bereits 1980 mit Depeche Mode im weltberühmten "Bridgehouse" aufgetreten ist. Der Song „Gone“ stammt von ihrem 1981er Album „Sleep No More“.


„Never Turn Your Back On Mother Earth“ dürfte den meisten bereits von der 1987er Weihnachtsflexi des BONG-Magazins bekannt gewesen sein. Auch diese Rarität hatte damals irgendwie schon zu uns gefunden. Das Original stammt von den "Sparks" aus dem Jahr 1974, die LP dazu heißt "Propaganda". 

Martin war dieser Song so wichtig, dass er ihn allein auf der "Tour For The Masses" ganze 17-mal live gesungen hat, und ihn auch auf den wenigen Konzerten seiner Solotour "A Night With Martin L. Gore" im Jahre 2003 performte.

Das älteste und bisher wohl am meisten gecoverte Stück ist „Motherless Child“. Es ist auch bekannt als „Motherless Children“ oder „Sometimes I Feel Like A Motherless Child“. Dabei handelt es sich um ein schwarzes Spiritual aus Zeiten der Sklaverei. Eine der allerersten Aufnahmen dieses Liedes stammt von Paul Robeson. 

Unser Videobeispiel stammt von Louis Armstromg und ihr könnt mal fix schauen, ob euch der Chor bei Minute 1:21 irgendwie bekannt vor kommt.  

Auf der "Counterfeit e.p" zeugt es bereits von Martins aufkeimender Blues-Affinität, mit der er uns später noch reichlich zu beglücken wusste. Eine aktuellere und regelrecht moderne Aufnahme unter dem Namen "Like A Motherless Child" findet ihr auf dem Moby-Album "Everything Was Beautiful, And Nothing Hurt" von 2018.


Eine der wohl weltbesten Coverversionen von "Motherless Child" lieferte uns jedoch Prince im Jahre 1999 im spanischen Fernsehen ab. Dieses spröd-funkige, nahezu gottgleiche Werk möchte ich euch hier nicht vorenthalten.

Alle dieser sechs Songs hatte niemand auf dem Schirm. Hätte man gewusst, dass Martin ein Soloalbum plant, hätte man wohl vermutet, er haut bekanntere Gassenhauer im Stile von "Down In The Boondocks" von Billy Joe Royal raus, oder Glamrockkracher seiner Jugend, wie "I Love You Love Me Love". 

Diese beiden Hits hatte er doch schon heimlich in seinem Studio aufgenommen. Aber er tut bewusst das Gegenteil, und im Nachhinein möchte man ihm reichlich dankbar sein, sich eben nicht für den Gary Glitter Song entschieden zu haben. 

Über die Hälfte der gecoverten Lieder auf der "Counterfeit e.p" entstand, als die Jungs bereits selbst die Karriereleiter erklommen. Damit führt sie uns unmittelbar vor Augen, welchen Stellenwert Musik anderer Künstler bei Depeche Mode einnimmt. 

Ein Thema, dass uns Dave zuletzt mit "Imposter" nochmal beispielhaft vor Augen führte. Martins Fortsetzung namens "Counterfeit²" folgte 2003, und selbst im Kontext seiner Hauptband haben Coverversionen seither ihren Platz.

Nach diesen sechs Songs ist diese Scheibe leider zu Ende. Gewollt und gekonnt hätte Martin sicherlich mehr. Diese Zurückhaltung ist ebenso ein Zeugnis für die Unsicherheit, in die er sich begab. Martin beschritt abseitige Wege, wollte aber genau diese Veränderung. Diese Platte musste einfach genau so passieren. Der komplette weitere Weg der Band beruht auf diesen wenigen Aufnahmen. 

Ihr Einfluss aber, vorallem auch auf unsere persönliche und musikalische Entwicklung, ist gleichfalls nicht zu unterschätzen. Selbst, wenn man damals nur leicht von der nahezu religiösen Verehrung Depeche Modes infiziert war, konnte man sich dieser Platte nicht entziehen und man war gezwungen, tief hinter die Fassade der "Counterfeit e.p" zu schauen. 

Hier begegneten wir Musik, die wir noch nie zuvor gehört hatten, die in keiner Hitparade auftauchte und im weitesten Sinne nicht mal Pop war.

Die "Counterfeit e.p" war eine Platte, die uns neuigierig machte auf die musikalische Welt außerhalb unseres kleinen Depeche Mode Universums an Rande der DDR. 

Ohne "Counterfeit e.p" wären wir wohl immer noch gefangen im seichten Fahrwasser von Hitparadenpop und Dudelfunk. So kam diese Platte gerade zur rechten Zeit um unser Coming of Age mit hinreichend musikalischer Erweckung zu begleiten. 

Wir schauten etwas zaghaft über den Tellerrand hinaus und lernten dadurch eine Welt kennen, die uns bisher verborgen war. 

Punk, Glamrock, Disco, Gospel. Unsere Neugier war geweckt, und bereitwillig folgen wir diesem Ruf  bis heute...

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Fotos: Discogs, Depeche Mode Monument; Videos: alle YouTube

dmfc.hopesandfears@gmail.com



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