“Can You Feel A Little Love?...” - 20 Jahre „Exciter“

Dank eines damals zwar noch sehr lahmen Internets, kochte die Vorfreude relativ schnell hoch. Wie würden sie wohl klingen nach der sensationellen „Ultra“? Die zweite Platte nach Alans Ausstieg, würde sie den hohen Erwartungen Stand halten können? 

Ganz Findige hatten schnell die nötigen Dateien im Netz zusammengesucht, nächtelang heruntergeladen und die ersten selbstgebrannten Vorabexemplare machten die Runde. Es herrschte rundum Aufruhr und Begeisterung. Heute vor 20 Jahren erschien "Exciter".

Aber wie konnte dann das passieren, was dann folgte? Glaubt man den weltumspannenden Sozialen Medien, ist „Exciter“ das Album, was bei diversen Polls zu Depeche Mode Lieblingsplatten stets mit am Schlechtesten abschneidet. Aus welchem Grund wurde „Exciter“ zum größten Hassalbum der Fans? Und in wie weit ist dies überhaupt gerechtfertigt? Was macht es vielen Fans so schwer, dieses Album zu lieben? 

Ich muss zugeben, ich weiß es nicht. Ich habe lediglich eine Idee. Weder bin ich aber Psychologe noch Musikprofessor, der in der Lage wäre, persönlichen Geschmack von ultimativer Wahrhaftigkeit, und kompositorische Minderwertigkeit von ausgeklügeltem Musikerhandwerk wissenschaftlich zu unterscheiden. Meine ausgesprochen positive Meinung zu "Exciter" ist streng von meinem persönlichen musikalischen Empfinden und meinem breit gefächertem Musikinteresse geprägt, ein Erklärversuch wäre daher maximal empirisch. Es ist für mich schlicht und einfach nicht nachvollziehbar.

Hier sind zunächst meine ganz persönlichen "20 Jahre - 20 Gründe", warum "Exciter" zu meinen all-time Depeche Lieblingsplatten zählt:

1. Das Cover

Wie immer ist es sehr ikonisch. Dieses Mal thront darauf eine Agave. Sie füllt die gesamte Ansicht aus. Fotografiert ist sie als Draufsicht. Mittig ist ihr Stachel auf uns gerichtet. Viele sagen, es wirke irgendwie phallisch. Als zuletzt eine Pflanze auf einem Depeche Mode Cover war, hatte diese auch Stachel, besser Dornen. Nur ist diese hier wesentlich größer, fest in Fleisch und Saft, dazu noch leuchtend grün. Eine Farbenfroheit, die es im Depeche Mode Universum so wohl noch nie gab. Grün ist aber auch die Komplementärfarbe zu Rot, und damit auch zum Rot dieser einen bestimmten Rose.


Auf der Rückseite findet sich ein Bandfoto, nach "Ultra" erst zum zweiten Mal. Die Jungs in einer alltäglichen Situation, offensichtlich in einem Diner. Alle Bandmitglieder sind deutlich erkennbar, sichtlich entspannt und im Inneren findet man noch viele sympathische Bilder mehr. Keine schwarz-ledernen Coolnessritter, sondern Menschen wie du und ich an ganz normalen Orten, bei Alltäglichkeiten. Es ist erstaunlich, wie gut dieses Cover eine Band mit völlig neuem Selbstbewusstsein zeigt und auch musikalisch ein ganzes Album vorweg nehmen kann.

2. Dream On

„Can you feel a little love?“ sind die ersten Worte auf dieser Platte. Aber die Liebe ist hier nur der verbale Gegenpol zu einer Parabel über Tod und Drogen, vielleicht sogar Tod durch Drogen. Ein Bericht über Abhängigkeit. Weise gewählt als Auftaktsingle, die zum einen die in den üblichen Promo-Interviews unvermeidlichen Fragen zu Daves Nahtoderfahrungen auf den Punkt bringt, zum anderen auch die musikalische Neuausrichtung vorgibt. Die Symbiose aus Elektronik und Akustik steht ihnen ausgezeichnet. Kristallklar dahingezupft, sensationell von Martins zweiter Stimme begleitet. Damals eine recht ungewohnte Mixtur aus elektronischen Beats und einer Bluesgitarre, die später durch Bands wie "Radiohead" zur Perfektion gebracht wurde.

3. Shine

Generell fällt hier die ungewöhnliche Songstruktur auf, wo erst nach 3 Strophen ein Refrain folgt, danach aber die Erzählung nicht mehr fortgesetzt wird. Etwas Mystisches scheint im Text seltsam attraktiv zu wirken. Musikalisch mit weiteren ungewöhnlichen Elektronikspielereien unterlegt, bricht die Elektronik ebenfalls mit klassischen Melodiebögen. Es scheint zunächst, als würde Dave asynchron zur Musik zu singen. Depeche Mode orientieren sich klar an Massive Attack, die nur wenige Jahre zuvor ihr Meisterstück „Mezzanine“ abgeliefert haben.

4. The Sweetest Condition

Der Blues hält wieder Einzug. Slide-Gitarre, sperrige Melodie, aggressiver Gesang über eine traurige Krankheit, die durch den Geist kriecht. Man spürt förmlich, wie alle sich nach dem "süßesten aller Zustände" zurücksehnen. Martin scheint davon so begeistert gewesen zu sein, dass er dieses kompositorische Schema seither auf jeder Platte mindestens einmal wiederholt. Textlich scheint der Punkt des Entzugs von diesem mystischen Etwas aus den vorherigen Songs erreicht.

5. When The Body Speaks

Eigentlich eine Gitarrenballade, in die sich Streicherarrangements schleichen. Dieses Mal keine mit wenig Aufwand zusammengesuchten Samples aus alten Italowestern-Soundtracks, sondern ein fünfköpfiges Orchester unter Leitung von Daves Freund Knox Chandler, der auch später an Daves „Paper Monsters“ Hand anlegen durfte. Dazu Daves zutiefst persönlicher Gesang über sein körperliches Verlangen nach diesem, uns bereits bekannten Mysterium. Möglicherweise einer Person, einer Substanz oder vielleicht doch etwas Anderem? 

Live jedenfalls einer der Höhepunkte der "Exciter-Tour", mit der Bestätigung, dass es hier doch irgendwie um die ganz großen Gefühle geht: „Come a little closer Mart, I can’t feel you back there! I need you closer...". 

6. The Dead Of Night

Zunächst erschrickt man ein wenig, wenn nach dem beschaulichen „When The Body Speaks“ plötzlich der Alarmton zum Start von „The Dead Of Night“ los röhrt. Mit an Überheblichkeit grenzender Intonation giftet Dave von den geilsten Jungs unter den untoten Nachgestalten, die anscheinend mit den richtigen Zutaten gesegnet sind, um der eben noch geäußerten Sehnsucht nach irgendetwas seltsam Verbotenem nachkommen zu können. Marilyn Manson würde töten für einen solchen Song!

7. Lovetheme 

Nach wie vor ein beliebtes Stilmittel sind bei Depeche Mode die sogenannten Interludes, die hin und wieder schon vorher, aber seit dem letzten Album durchgängig auch eigene Titelnamen erhielten. „Lovetheme“ dient dem Runterkommen nach der süffisanten Zombiehymne „The Dead Of Night“ und leitet sanft zum Thema "Freie Liebe" über.

8. Freelove

Ein minimalistisches, gospelartig vorgetragenes Meisterwerk, das die Liebe beschwört, die an keinerlei Bedingungen geknüpft ist. Free Love - kostenlos, nicht umsonst! Mit Percussion unterlegt von Airto Moreira, einem Meister seines Fachs, der seit den 70er Jahren in dieser Szene hoch angesehene Platten veröffentlicht. Noch besser herausgearbeitet im "Flood Mix", der dann auch als Single veröffentlicht wurde. "Freelove" war live damals ein großer, wenn nicht der größte Depeche Mode Gänsehautmoment, als tausende Kehlen in der Konzerthalle am Ende „Ooooh Just Freelove“ sangen.

9. Comatose

Martin huldigt textlich anscheinend den Auswirkungen seines übertriebenen Alkoholismus. Er krönt seine Ausfälle mit einer beeindruckenden Gesangsperformance im Stile eines Scott Walker, die er auf den oszillierenden, synthetischen Soundteppich legt. Der Einfluss auf Martin Gore zur Zeit von "Exciter", insbesondere dessen Gesangsstil, ist hier kaum zu überhören, und mit einem Cover von "The Big Hurt" wäre Scott Walker auch beinah auf "Counterfeit²" verewigt worden. Leider ist "Comatose" einer der Songs, die Depeche Mode noch nie live gespielt haben.

10. I Feel Loved

Der Tanzbodenkracher der „Exciter“. Ein funkiger Rocker mit beißendem Refrain, quasi das “A Question Of Time” der Nullerjahre, leider nur bis kurz vor 9/11 live gespielt, was vielleicht auch der Grund war, es danach nicht mehr zu spielen. Ebenfalls rhythmisch enorm aufgehübscht von Airto Moreira. Wie wir schon auf „Ultra“ erleben durften, tut Depeche Mode die Zusammenarbeit mit externen Künstlern weiterhin extrem gut. Dazu ein sensationell gutes Video von John Hillcoat, der auch schon Herbert Grönemeyer und Bush einst zu mehr optischer Coolness verhalf.

11. Breathe

Martin kehlt Kopfgesang zu seinem Lieblingsthema Verleumdungen, deren teilweise langanhaltenden diffusen Wegen von einer Person biblischen Namens zur Nächsten, und den teils desaströsen Auswirkungen derartiger Anschuldigungen. Begleitet vom countryesken Klang einer Westerngitarre und von der Bitte, man möge doch, trotz der zahlreichen Vorwürfe irgendwie zu ihm halten.

12. Easy Tiger

Das famose „Easy Tiger“ gerät auf "Exciter" leider zu kurz, denn erst in der Vollversion als B-Seite von „Dream On“ entfaltet es seine große instrumentale Pracht und kam auch als Teil des Live-Intros zu Ehren. Einfach grandios.

13. I Am You

Schon wieder ein Stück über Abhängigkeiten und sich darin zu verlieren. Glaubt man den Sozialen Medien, ist das der Song, der von den ganz oldskooligen Depeche Mode Fans stets am hörbarsten empfunden wird. Und das, trotz der elektronisch eingebremsten Gesangsstimme Daves. Die strikte Umsetzung im 5.1-Mix dieses Songs ist sensationell.

14. Goodnight Lovers 

Martin wollte einen atmosphärisch ähnlichen Song wie „I’ll Be Your Mirror“ schreiben, und damit ein Velvet Underground Feeling erzeugen. „Goodnight Lovers“ funktioniert aber auch exzellent als eine Art Gospel-Lullaby. Gahan selbst behauptet, er habe ihn quasi so gesungen, wie er ihn seiner damals noch sehr kleinen Tochter Stella als Wiegenlied vorgesungen hätte. Natürlich kann man den Text auch in diese Richtung interpretieren. 

Ein mutiger Schritt war, dies als Single auszukoppeln. Live immer noch ein Gänsehautmoment als Schlusssong der „Touring The Angel“-Konzerte. 

15. Zenstation

Ein Electro-Techno, der beinah noch besser ist als „Easy Tiger“, ist „Zenstation“ mit seinem unüberhörbaren asiatischen Einfluss, einem relativ verstörenden elektronischen Mittelteil und den mantraähnlichen Vokalanteilen. Zu genießen als B-Seite von „Freelove“.  

16. Dirt

Auffällig ist, dass sie mit „Dirt“ erstmals als Band ihren eigenen musikalischen Helden huldigen. Möglicherweise zwar zunächst nur als rockendes Zugeständnis an Dave und seine immer noch verschmähten Songwriterambitionen, aber dazu dann die sensationellen, aber eher schrägen Stooges zu wählen ist ein mutiger Schritt. Und immerhin erst die zweite offiziell erhältliche Coverversion unter dem Namen Depeche Mode in den 20 Jahren des Bandbestehens.

17. Die Exciter Tour

Eine der letzten große Album-Touren mit ganzen sieben Songs der Platte live aufgeführt. Unterstützung erhielt die präzise aufspielende Band durch zwei umwerfend talentierte Backgroundsängerinnen, die mit dermaßen Stimmen gesegnet sind, um an den richtigen Stellen auf Revue machen zu können, aber auch wenn nötig Ernsthaftigkeit und Gospelstimmung zu verbreiten. 

Ein die Musik in den Vordergrund stellender, minimalistischer Bühnenaufbau ohne Stege und Rampen, sechs Lampen im schlichten Metallrahmendesign, eine große Leinwand, kein Firlefanz. 

Eine Rockband auf der Höhe ihres Schaffens. Zum Vergessen leider das extrem verregnete und verkürzte Konzert auf der Leipziger Festwiese, sensationell die beiden Konzerte in der Berliner Waldbühne mit der Ehrerbietung an Fad Gadget. Zur Krönung die gesamte Crew Faxen machend auf der Bühne in der Mannheimer Maimarkthalle und Martins deutsche Ansage zu „World Full Of Nothing“. Ein Abschlusskonzert zum Niederknien. 

Sensationell dann auch der abschließende Auftritt bei den European Music Awards in Frankfurt, bei dem sie zur Kulisse von "Freelove" mal eben fix mit "Never Let Me Down Again" die Hütte zum Abriss bringen.


18. Das Exciter-Tourbook 

Anton Corbijn zeigt uns Martin mit seinen neuen, blendend weißen Beißerchen und die Band ihr ganzes Spektrum vom model- und klischeehaften Kleiderständerspielen mit Dave und seinem sexy Vollbart, bis hin zu ihrem ganz speziellen Humor. Dieses Mal lassen sie von Angela-Davis-Perücke über Elvis-Plastiktolle bis Hellraiser-Maske besonders viele Albernheiten zu. Ziemlich cool!


19. One Night In Paris                             

Ziemlich genau ein halbes Jahr nach einem fulminanten Abschlusskonzert erschienen, nimmt uns Anton Corbijn nochmal mit, in unsere unvergesslichen Liveimpressionen einzutauchen. Nach den unvollständigen "The World We Live In", "Devotional" und "101", sowie dem halben Fernsehmitschnitt der "The Singles Tour 86-98", nun zum ersten Mal ein komplettes Konzert, allerlei Bonussachen, Fans, Interviews, die Stagescreens, ja sogar eine Fotogalerie und Martin's "Surrender" aus der Umkleide als Easter Egg. Ein rundum glücklich Paket, exzellent fotografiert und vertont und ohne peinliche oder unnötige Füllware aus der Frühphase. Der Konzertteil von "Dream On" bis zu "Freelove" gehört wahrscheinlich mit zum Besten, was Depeche Mode jemals live präsentiert haben. 

Das Depeche Mode heutzutage kaum Songs der "Exciter" live spielen, liegt nicht daran, dass sie ihrer eigene Musik selbst nicht mehr mögen, sondern schlicht am zu gefühlvollen Material für die eher brachiale Rock'n'Roll-Show, wie sie sie zuletzt ablieferten. Vergleicht selbst! 

"Freelove" wurde beispielsweise noch einige Male auf der "Tour Of The Universe" und "When The Body Speaks" sogar relativ oft auf der "Delta Machine Tour" gespielt. Beide jeweils als Solostück von Martin.




20. Die Remastered SACD/DVD

Im Jahre 2007 wurde auf Mute nicht gekleckert, sondern geklotz. Das gesamte Album erschien generalüberholt in überragender SACD-Qualität, dazu noch in je einen raumfüllenden Dolby Digital und einen DTS-Mix verwandelt, plus einer mehr als halbstündige Dokumentation über die "zarte und zerbrechliche Seite" der Band. Die Liveversionen aus Paris sind ebenfalls als 5.1-Mix dabei, und die exzellenten B-Seiten wurden auch nicht vergessen. Für Stereofreunde ein Genuss, für Surroundhörer eine Offenbarung.

Fazit 

Neben dem uns allen bekannten uns sehr geschätzten Gareth Jones, der bereits in die Vorproduktion eingebunden war und Martin aus einer vermeintlichen "Kreativblockade" gelockt haben soll, zeichnet Mark Bell für Arrangement und Struktur verantwortlich. Er arbeitete zuletzt mit Björk, die seit je her als Speerspitze musikalischer Avantgarde gilt. Wer das von Bell produzierte, teilweise etwas sperrige „Homogenic“ von ihr kennt, wird diverse Parallelen finden. „Pluto“ ist beispielsweise das röhrende Äquivalent zu „The Dead Of Night“, und die Platte endet mit einem ebenso versöhnlichen „All Is Full Of Love“. Mark Bell wurde genau wegen dieser Arbeit als Produzent gewählt. 

Daniel Miller meinte dazu „Wir wollten kein Album machen, dass in irgendeine Schublade passt…die Songs sollten in ihrer eigenen Welt leben, und ich glaube, er hat das verstanden.“ Neben seiner Arbeit mit Daniels Label Novamute, dem Soundtrack zu „Being John Malkovich“ und dem legendär-abstrakten House-Techno um 1990 mit seinem Projekt "LFO", war er der Band bereits durch seinen Remix für „Home“ näher gekommen. Leider ist er bereits 2014 im Alter von 43 Jahren verstorben. 

 

Thematisch betrachtet ist „Exciter“ ein riesiger Drogen-und-Abhängigkeiten-Schwanengesang, den uns Martin da aufs Papier brachte. Mittlerweile schreibt er Texte, die extrem komplex sind und eine enorme verbale Vielfalt aufweisen.

Alle Songs bilden einen in sich geschlossenen Soundmantel. Der thematische Aufbau der Songs erklärt auch die oft kritisierte Anordnung. Man könnte hier im weitesten Sinne sogar von einem Konzeptalbum sprechen. Jeder einzelne Song dieser Platte ist größer, als der gesamte musikalische Durchschnitt da draußen, und das bis heute. Sie packen ihre Songs in ein minimalistisches, zeitgemäßes aber dennoch sehr zeitloses Gewand, ohne nostalgische Selbstzitate und erstmals komplett ohne fremde Samples, leicht und komplex zugleich. Die vielmals angeführten "produktionstechnischen Schwächen" sind kompletter Bullshit und dienen maximal der Selbstrechtfertigung der Kritiker. Es klingt heute noch genauso frisch wie vor 20 Jahren. Dazu leisten Dave und Martin über die gesamte Platte einige ihrer besten Gesangsperformances. 

Dave sagt dazu selbst: "Mark Bell, der Exciter produzierte, [...] er hat mir einige interessante Dinge über die Verwendung meiner Stimme beigebracht, weil er zuvor mit Björk zusammengearbeitet hatte, und viele Dinge ins Studio mitgebracht hat, die er mit ihrer Stimme machte. Ich lernte zu flüstern, sehr leise und sehr nah am Mikrofon zu singen, alle Töne in meiner Stimme zu verwenden, um diese Kreatur zu erschaffen. "Dream On'' war eines dieser Lieder, in denen es sich um diese lyrische Figur handelt, ich wurde zu demjenigen, ohne Schwierigkeiten. Ich konnte rein und wieder raus!"

Und woher kommt nun diese harsche Kritik? 

Nun - ich weiß es nicht. Jedoch hat sich die Musiklandschaft seit, oder besser mit, vielleicht sogar durch die 80er Jahre kolossal verändert. An jeder Ecke plätschert uns heutzutage Musik um die Ohren. Nach den wenigen Fernsehsendern unserer Jugend ist das Angebot mittlerweile nahezu unendlich, dazu kommen tausende Radiosender, besonders im Internet. Heutzutage kann man für relativ wenig Geld monatlich beliebig viele Songs streamen oder kostenlose Videos im Internet schauen, natürlich auch immer dieselben, wenn es sein muss. Platten oder CDs kaufen ist nicht mehr notwendig. 

Damit bleibt natürlich auch der haptische Eindruck des Musikgenießens auf der Strecke. Sich eine dreiviertelstunde Zeit nehmen, das Scheibchen aus der Hülle schälen, gespannt lauschen, die Texte im Booklet verfolgen, wer macht das noch? Als Teenager saugten wir derartige Platten genüsslich in uns auf, spielten sie stundenlang ab und die Kassette danach wieder zurück, um sie gleich nochmal von vorne zu hören. Musik war für uns als Teenager immer der Dreh- und Angelpunkt, ja sogar die philosophisch-normative Richtschnur. Alles damals Gehörte ist eingebrannt in unser Hirn. Selbst bei Songs die man gute 20 Jahre nicht gehört hat, ist man heute plötzlich wieder textsicher. 

Es gab Zeiten, da mussten wir auf die Videos zu unseren Lieblingshits immer mindestens eine Woche warten, meist bis montags zur neuen "Formel Eins"-Sendung. Danach kam die Phase des Musikfernsehens, also die, wo tatsächlich dort auch Musik gesendet wurde. Man wartete immer gespannt auf den nächsten Titel und blieb stundenlang vorm Gerät sitzen, stets in der Hoffnung, das endlich sein Lieblingssong ertönen möge. Ende der 90er konnte man dann schon mit etwas Mühe Musik aus dem Internet ziehen. In den zahlreichen Radiostationen liefen nur noch die „größten Hits“ der allerletzten Jahrzehnte. Nichts allzu Anspruchsvolles, Hauptsache kurz, damit genug Platz für Werbung bleibt, und schön eingängig, damit die Leute am Gerät bleiben, um die Werbung auch zu hören. Die wenigen Spartenprogramme wie DT64 oder die frühen Sputnik wurden abgewickelt oder auf die Mittelwelle verbannt.

Mittlerweile erfordert Musikgenuss Arbeit. Wer sich heute nicht mehr proaktiv für Musik interessiert, der hat es schwer, interessante Musik für sich zu entdecken. Jeder steckt irgendwie in seiner bequemen musikalischen Nische, die man ohne eigenen Willen, etwas Anstrengung und fremde Impulse nicht überwinden kann und will. Bei Büchern ist das übrigens genauso. Der Markt ist so ausdifferenziert, dass beispielsweise "Arcade Fire", "Florence & The Machine" oder "Radiohead" die Headlinerslots vor hunderttausend Zuschauern beim Roskilde-Festival, in Glastonbury oder beim Lollapalooza besetzen, aber Leute aus deinem Freundes- und Bekanntenkreis selbst bei diesen durchaus mainstreamtauglichen Megasellern nur unwissend mit den Schultern zucken. Studien besagen, dass man ab 30 leider kaum noch neue Musik für sich entdeckt, aber ab da vorwiegend seinen alten, "persönlichen Klassikern“ hinterherhängt. Uns geht der Überblick verloren, unser Konsum wird oberflächlicher.

„Exciter“ kam heraus, als wir alle schon erwachsen waren, Berufe gelernt und Familien hatten, und so um die 30 waren wir am Ende auch. Sind wir deshalb möglicherweise selbst das größte Problem an „Exciter“?

Was heißt das nun?

"Exciter" selbst kann nichts dafür. Es liegt in unserer Hand "Exciter" zu mögen, denn es ist wahrlich ein famoses Album. Ständige Vergleiche mit "Violator" oder ähnlichen Epen bringen uns in diesem Falle nicht weiter, da dies vom kompositorischen Ansatz her völlig unterschiedliche Platten sind. Erschwerend kommt hinzu, dass vorwiegend die "alten Platten" bei vielen Hörer*innen in erster Linie Selbstreferenzierungen auf sorgenfreie Jugendtage darstellen, damals, als man sich noch für Musik irgendwie "interessierte". Natürlich sind "Violator" und "Black Celebration" sensationell gute Alben, "Exciter" ist es aber auch! Eine Band, die konstant auf diesem hohen Level Musik abliefert, hat es verdient, dass ihre Arbeit auch gewürdigt wird, als das was sie ist, nämlich eine sensationell gute Langspielplatte.

Nur "Exciter" öffnet sich einem nicht auf Anhieb. Der Stachel der Agave auf dem Cover ist auch der in den Hörgewohnheiten der Fans. Nach den Sampleorgien früherer Depeche Mode Alben und dem massiven Sound, kommt „Exciter“ extrem elektronisch und reduziert daher. In diesem Punkt ist sie damit der viel gepriesenen "Violator" sogar nicht mal unähnlich. Dabei sollte man der Band und ihrem feinsinnigen Humor nicht auf den Leim gehen, und "Exciter" ausschließlich im Sinne von einem blutdrucksteigernden "An-", "Auf-" oder "Erreger" übersetzen, ein "Exciter" ist nämlich genausogut ein in der Musikproduktion eingesetzter Effekt, der das Klangbild transparenter erscheinen lassen soll. Eine Metapher, die sich auch exzellent auf den neuen Sound der Platte anwenden lässt. 

Depeche Mode konterkarieren sich selbst, alles Bisherige und gehen damit wieder einen entscheidenden, wichtigen Schritt weiter. Martin Gore sagt zum Album selbst „This is not so Depeche“, und genau das sollte so sein. Depeche Mode erklimmen ein neues Level, noch weiter weg von immer mehr bedeutungslosen und nichtssagenden Charts, hin zu Kunst, Unabhängigkeit, und das Pfeifen auf Erwartungshaltungen.

Akustik meets Elektronik - etwas mehr Mensch trifft etwas weniger Maschine. Es ist und bleibt die Essenz dessen, was Depeche Mode an sich, und vielen von uns speziell bedeutet. Genauso wollten Depeche Mode ab da klingen. Es ist ihnen vortrefflich gelungen.

"Exciter" ist ein Album für die einsame Insel, eine Platte für die Ewigkeit! Es wird Zeit, sich in diese wundervolle Scheibe neu zu verlieben. Can you feel a little love too? 

„Shhhh"

 (stx)

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