"Get Out The Crane..." - Das Ende von Unschuld und Unbekümmertheit

Twist and turn 'til you got it right

Nach dem Charterfolg von "Leave In Silence" wirkten sie kurz ein wenig unschlüssig. Sie wollten zwar den Richtungswechsel, trauten sich aber nicht so recht, oder wussten noch nicht so recht, wie. Das das hört man auch.

"Get The Balance Right" wirkt wie eine Art musikalischer Zwitter. Stellt es doch einerseits eine technisch konsequente Weiterentwicklung dar, wirkt aber im Kontext dessen, was im gleichen Jahr noch folgen sollte, aus heutiger Sicht etwas orientierungslos, Sinn suchend und beschreibt gleichzeitig musikalisch einen kleinen Rückschritt in Richtung der "leichten Muse" des Vorjahresalbums. Zumindest die Single-Version. 

Parallel dazu stieg die technische Qualität des Mixing um Längen. Besonders gut zu hören im starken ("It's what we in the biz call a) Combination-Mix", so der offizielle Auslaufrillentext. Der bis dato längste Remix der Band, der auch schon kurze Zeit später im house-affinen Teil Amerikas stark angesagt war. 

"Live coming soon!" stand damals auch noch in der Auslaufrille. Es war die Ankündigung einer Reihe bahnbrechender, extrem corporate designter Live-Maxis mit EP-Charakter und den Konzertmitschnitten der letzten Tour. Zum Leidwesen aller aber nur des fast kompletten Konzertes aus dem Londoner Hammersmith Odeon 1982.

Angesichts dieses konzeptionellen und auch lyrisch stark nach Orientierung suchenden Popmusik-Problems, ist "Get The Balance Right" konsequenterweise eine stand-alone Single geblieben. Aus gutem Grund findet man es nicht auf dem Album, was genau heute vor 40 Jahren erschienen ist: "Construction Time Again". Eine weise Entscheidung! 

The graph on the wall tells the story of it all

Vorbote und erster großer Hit des 1983er Depeche Mode Albums war "Everything Counts", mit dem ganz klar der Hitparadenerfolg außerhalb des UK angepeilt wurde. Völlig untypisch konnte ein relativ klar kapitalismuskritischer Song die Hitparaden Thatcher-Englands und Rest-Europas im Sturm erobern. 

Depeche Modes Marketing-Strategie schien endlich aufzugehen, und ich meine, mich noch an das eine oder andere "Everything Counts" nach der Schule in der "Bayern 3 Radioshow" erinnern zu können. Die stets äußerst penetranten und für die 80er-Jahre so typischen Synthi-Trötentöne wurden hier technisch ordentlich zurechtgestutzt, so dass diese die kommenden 40 Jahre überleben konnten. Ein Umstand, der bei weitem nicht allen Bands dieser Zeit gelang.


Zu verdanken haben wir dies keinem Geringeren als "Tonmeister" Gareth Jones, der als damalige spirituelle Leitfigur mit den Jungs loszog, um seine Bandmaschine mit allerlei kuriosen Geräuschen zu bestücken, auch wenn es bei "Everything Counts" wohl erstmal nur ein Xylophon und eine Harmonica gewesen zu sein scheinen. 

Scherbel, krach, peng und zong mit allerlei Zeug, schön zu hören in der schmissigen Vorab-B-Seite "Work Hard". Ist das Holz, was da zerbricht? Der sperrige Uptempo-Kracher stellt soundtechnisch einen Kontrapunkt und eine Karikatur des Textes der A-Seite dar. "You've got to work hard, if you want anything at all!" Arbeiterklasse statt Aktionärsbüro! Bei der Mühe, die sich die Jungs bis heute mit ihrer Musik geben, glauben sie vielleicht selbst noch daran.
 

Am 22. August 1983 folgte mit "Construction Time Again" der passende Langspieler, der aus heutiger Sicht erstmals dem Duktus eines Quasi-Konzeptalbums folgt. Produktionsseitig äußerst modern, soundtechnisch homogen, und textlich mit allerhand Weltbeschau und Problembewusstsein. Dies markiert nachdrücklich einen wirklichen Neubeginn in jeglicher Hinsicht, und legt damit den Grundstein ihres bis heute anhaltenden weltweiten Erfolgs. 

On this golden day work's been sent our way, that could last a lifeteime

Diesen Neubeginn, die Runderneuerung, oder die Zeit aufzubrechen, verheißt uns "Construction Time Again" schon im Titel. War "Get The Balance Right" textlich der Suche nach dem richtigen Weg gewidmet, war dies die letzte Single, die noch im legendären Blackwing-Studio von Eric Radcliffe und John Fryer aufgenommen wurde. Der Tross zog weiter in Richtung "The Garden". 

"The Garden" war das damals arg angesagte Studio vom noch ein bisschen mehr angesagten John Foxx, seines Zeichens Ex-Mastermind von "Ultravox". Begleitet wurde diese musikalische Karawane vom damaligen Intimus John Foxx', dem Soundgenie Gareth Jones, der bereits auf dem ersten Foxx'schen Soloalbum namens "Metamatic" elektronische Pionierarbeit geleistet hat. 


Genau hier schließt sich der Kreis zu Mute-Records, denn "Metamatic" klingt wie klassischer Mute-Stoff aus der Zeit. Wahrscheinlich hätte damals sehr gern ein "anderer" Labelchef diese Platte herausgebracht, aber "Metamatic" erschien auf Virgin. Stoisch und elektronisch, technisch auf der Höhe der Zeit. Daniel Miller war ein großer Fan. Der Vorschlag mit Gareth bei Foxx zu arbeiten kam direkt von ihm.

Daniel und Gareth gelang letztendlich mit dieser Entscheidung die Erfindung und die Manifestation der bis heute typischen Depeche Mode und ihres einzigartigen Trademark-Sounds.

Lots of surprises in store, this isn't a party it's a whole lot more

Das Album beginnt wie so oft, mit der Liebe. "Love, In Itself" bleibt der einzige Song auf der Platte, der sich diesem Thema widmet. Im weiteren Albumkontext wird sie uns nicht mehr begegnen. Denn schon hier genügt sich die Liebe nicht mehr nur sich selbst, im tristen England der frühen 80er Jahre, in einer Welt voll übergroßer Aufgaben.

Der raffinierte Song mit dem Video aus der walisischen Tropfsteinhöhle, ist ein würdiger Album-Opener und wird im September 1983 noch zur After-LP-Single. Charkteristisch ist ihr einprägsamer Trompetensound, bei dessen Darstellung im Video Martin das Mundstück direkt in seinen Mund hinein steckt. Diesen Gimmick leistete er sich bereits einst bei einem Fernsehauftritt zu "Just Cant Get Enough". Kaum zu glauben, dass dann irgendwie trotzdem noch einer der größten Musiker der Welt aus ihm wurde 😁

Der oft als späteres Technikgenie bezeichnete Alan Wilder, war zu Zeiten von "Construction Time Again" noch ein aufmerksamer und gelehriger Schüler. Bringt er mit seinen jungen Jahren zwar reichlich Erfahrung als Studio- und Sessionmusiker mit, waren ihm die technischen Möglichkeiten der elektronischen Musik bisher verschlossen. Bester Beweis für seinen damaligen technischen Stand ist das flockige und etwas unbeholfen wirkende "Fools", was als B-Seite zu "Love, In Itself" dazugepackt wurde. Musikalisch und technisch ein mediokres, aber dadurch nicht weniger sympathisches Experiment. 

Neben dem gemeinsam mit Martin komponierten Instrumental "The Great Outdoors" und der zweiten Kooperation der Beiden namens "Work Hard", gehört "Fools" zu seinen ersten charmanten, aber eher holprigen Kompostionsversuchen. Für das Album selbst ist es eindeutig zu leichtfüßig. 

Alan durfte dann trotzdem gleich zwei Songs für "Construction Time Again" allein komponieren. Er erkannte dabei seine Begabung und Chance, schaute sich einiges an handwerklichen Fertigkeiten und technischem Know-How von Gareth Jones ab und nutzte dies später reichlich. 1983 bleibt aber erst einmal noch das Jahr des Gareth Jones. Ideen, Sounds, Produktion. Deutlich zu hören auch am sonstigen Oeuvre Gareths aus dieser Zeit. 

Als zweiter Titel auf der LP begegnet uns "More Than A Party", ein harscher und rüder Hau-drauf-Kracher, der reichlich Kritik am Kapitalismus übt, die rasante neoliberale Entwicklung im Thatcher-England der 80er Jahre aufs Korn nimmt, und diese auch tempomäßig immer schneller vorantreibt. 

Schlüsseltrack des Albums, und damit auch der ganzen späteren Depeche Mode, ist und bleibt das folgende "Pipeline". Allein soundtechnisch betritt es gleichzeitig viele neue Welten. Die Sounds der legendären Eisenbahnunterführung in Shoreditch, der mit Eisenstangen behauene Zaun, dazu der zufällig schreiende Nachbar und der durchrauschende Zug. Das alles passte auf nur vier mobile Tonbandspuren, die eigentlich nur drei waren, weil Gareth wohl vergessen hatte, die vierte Spur zuzuschalten. Der akustische Spürsinn der Jungs war geweckt. Mehr geht nicht. Zunächst.

Thematisch ist "Pipeline" nah am Thema Ausbeutung und der nicht enden wollenden Aufgabe, diese zu beenden. Wie sehr dieser Song das spätere Wirken der Band textlich und technisch beeinflusst hat, kann man nur erahnen. Als Beweis dieser These stelle ich die Fusion mit dem Beat von "Stripped" auf der "Tour For The Masses" in den Raum. "Pipeline" war letztendlich die Basis für alles, was noch folgen sollte.

Nach dem bereits besprochenen "Everything Counts", folgt mit "Two Minute Warning" auf der B-Seite unseres Geburtstagskindes die erste Alan Wilder-Komposition auf einem Longplayer. Ein Song, der relativ eindeutig von der Gefahr eines Atomkriegs handelt und möglicherweise unter dem Eindruck des Falkland-Kriegs entstanden ist. Eine "Two Minute Warning" kennt man vielleicht aus der NFL, wo es kurz vor Schluss noch eine Auszeit ermöglicht, in diesem Kontext meint es jedoch klar die nahezu nicht vorhandene Vorwarnzeit bei einem Atomangriff. Angesichts dessen schon ein cleverer Wilder-Move, und auch für uns eine Aufforderung zur Besinnung.

Das etwas sperrigere "Shame", was man im Text erst ganz verfremdet am Ende hört, handelt von der Ausbeutung der Dritten Welt und den Hungersnöten in Afrika. Als Schuldiger werden wir ausgemacht, genau wie bei "The Landscape Is Changing", in dem sich unser Charly dem Thema Umweltszerstörung und allen schlechten Auswirkungen widmet, die durch unsere Ignoranz befördert werden.

Potenzielle dritte Single aus dem Album sollte dann noch das legendäre "Told You So" werden. Im Reigen der mit "Get The Balance Right" begonnenen Reihe an limitierten Maxi-Singles mit Live-Tracks, hätten die fehlenden Aufnahmen aus dem Hammersmith Odeon 1982 hier komplett zu Ende gebracht werden können. Dazu gab es bereits eine erste Promo-Single in Spanien. 

Thematisch ist "Told You So" eine weitere Abrechnung mit der menschlichen Gleichgültigkeit und der Enttäuschung über mangelnde Empathie beim offensichtlichen Blick in den Weltuntergang. Damit ist es auch heute noch brandaktuell. Jedoch war das Arbeitstempo der Jungs so hoch, dass die Veröffentlichung des technisch um Längen ausgereifteren und späteren Megahits "People Are People" so schnell erfolgte, dass keine weitere Single aus "Construction Time Again" augekoppelt werden musste.

Bei "And Then..." schildern sie uns zum Schluss noch den neu einzuschlagenden Weg nach dem Judgement Day, dem Tag des jüngsten Gerichts, wahlweise nach einer globalen Revolution. Ein Neubeginn mit klarer akustischer Gitarre. Mögen die Kinder nun endlich die Welt nach ihren Wünschen formen. 

Das wäre dann wohl auch ein recht versöhnliches Ende. Wer dann an dieser Stelle aber nicht gerade eine Neupressung der LP aus der Wendezeit erwischt hat, hört zum Abschied nochmal leise den endgültigen Sieg des Kapitalismus vorbeziehen: "Everything Counts (Reprise)".

To pull it all down and start again from the top to the bottom

Für das fette Mixing von "Construction Time Again" zog die ganze Mute-Posse weiter nach Berlin. Neben Depeche Mode, hatten Daniel und Gareth gleich noch die ganzen anderen Mute-Acts der Zeit im Gepäck. Nick Cave und seine damals frisch im Sterben liegende Birthday Party, Mute-Urgestein Fad Gadget, Daniels ganze sonstigen Projekte. Man traf wieder auf DAF und lernte die Einstürzenden Neubauten kennen. 

Selbst die Berliner Urgesteine "Lemonbabies" und "Ideal" lauerten ein Jahr später noch im Dunstkreis von Depeche Mode. Wie wir beinah noch hätten hören dürfen, nahmen die beiden Humpe-Schwestern glatt den Backgroundgesang zu "Master And Servant" auf, was man nur auf einer raren Demoversion des Songs herausfindet. So blieb es gegen Ende 1983 bei den Credits an Daniel und Martin fürs fachkundige Musizieren an den komplexen Tastengeräten auf der ersten gemeinsamen Langspielplatte der beiden Damen namens "Humpe-Humpe".

Berlin war kostengünstig und mit entsprechend ansprechendem Nachtleben für angehende Rockstars ausgestattet. Neben der Stadt selbst, zog die musikalische Historie die Band nahezu magisch an. Hatte doch das von allen als gottgleich gehuldigte Gespann David Bowie/Iggy Pop hier ihre bekanntesten und besten Platten aufgenommen. Es sollten nicht die letzten legendären Platten werden, die die sagenumwobenen Hansa-Studios hervorgebracht haben.

Ganz nebenbei wurde noch der Stadt selbst ein visuelles Denkmal im Video zu "Everything Counts" gesetzt. Szenen aus der City, wie dem Ernst-Reuter-Platz oder entlang der "Linie 1" in Kreuzberg, wechseln sich ab mit Mauerbildern, dem Strandbad Wannsee, Straßenkreuzungen und dem Café Kranzler.

Es war das zweite, komplett von Martin zu schreibende Album. Er erhielt tatkräftige Unterstützung durch Alan und sie kooperierten bei den 1983er B-Seiten. "The Great Outdoors" blieb das letzte Instrumental für lange Zeit. Ab jetzt folgten auf den Rückseiten der Singles Songs mit Pop-Appeal und Text. Auch dies ein klares Zeichen für die neue Ausrichtung. 

Waren die Vorgängeralben noch rein elektronisch, wurde bei "Construction Time Again" verstärkt an akustischen Instrumenten geschraubt. Ein weiterer Einfluss der klar auf Naturesoteriker Gareth und den tasten- und zupf-affinen Martin zurückgeführt werden kann. Schön zu hören in der jazzigen Bar-Lounge-Version von "Love, In Itself 4".

Das reichlich beeindruckende Covermotiv wirkt wie elegant im Studio zurechtdekoriert. Jedoch sind Fotograf Brian Griffin und sein "Model" damals extra mitsamt dem Hammer nach Zermatt in der Schweiz gefahren, um dort von der Bergstation der Gornergratbahn aus diese eindrucksvolle Aufnahme von Matterhorn und Hammermann zu machen. 

Zeitzeugen und Pilgerkartenwanderer konnten Aufnahmeort und Blickwinkel mittlerweile bestätigen. Einfach aus der Bahn raus, übers Geländer geklettert, den 120er Rollfilm vollgeknipst, zack fertig!

Leider gibt es zu Album und Tour kaum offizielle Livemitschnitte. Einzig auffindbarer Beitrag ist ein Mitschnitt der BBC, der mehr einer kurzen Tourdoku ähnelt. Neben einigen Backstageszenen wird als große Neuerung die nagelneue Lichttechnik mitsamt ihrer Bändigerin Jane Spiers angeteasert, die ihr alle auch schon aus "101" kennt ("aaaaand, go!"). 

Weiterhin gibt es einige Songs zu sehen, die später noch auf der "BBC Transcription Service" Aufnahme mit der Nummer 320 erschienen sind. Dazu steht Martin mit einer Flöte und eine erste akustische Klampfe mit auf der Bühne, und man beginnt allmählich zu verstehen, warum sie danach so groß werden konnten. Allein die Körperlichkeit von Dave spricht Bände, im Vergleich zum reichlich ein Jahr früher aufgenommenen, geradezu schüchtern wirkenden Dave beim Hammersmith Konzert. 

Es zeigt eine Band, die sich losgelöst hat von ihren britischen Kleinstadtwurzeln, die vor Emanzipation und Selbstbewusstsein nur so strotzt, und die mit dem hier live Präsentierten nicht zufriedener sein könnte. Authentisch und ohne Quatsch - bis heute!

Das Album kommt mit weltgewandten, von der Thatcher-Ära geprägten Texten, die die Menschen damals bewegten. Die Jungs sogen diese Themen auf ihren ersten Tourneen um die Welt in sich auf, die Journalisten belächelten sie wegen ihres vermeintlichen Marxismus. 

"Construction Time Again" verströmt im Gegensatz zu seinem Vorgänger einen regelrecht muskulösen Klang. Die Tür zum Industrial wurde weit aufgestoßen. Die Scheibe besticht durch enorme technische Innovation und klangliche Einzigartigkeit. Zum letzten Mal strahlt es diese jugendliche Naivität und Unbekümmertheit aus. Es ist und bleibt ein perfekt unperfektes Album, und zählt wohl genau deswegen zu einer meiner absoluten Lieblingsplatten. 

Für uns ebnete es den Weg zur "Heiligen Fanwerdung", für die Band hieß es danach "Let's take the whole of the world..."

(stx)

Videos: YouTube, Fotos: MSt, Michele Andina on Facebook 

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