"This Is More Than A Party...", Teil 2 - Erinnerung an die legendären Depeche Mode Feten in Halle

Diskotheken, in denen jede Person extatisch tanz, sich völlig verausgabt und nicht mehr erkennen kann, ob es der eigenen Schweiß ist, oder nur Wasser, was von der Decke tropft, so waren die "Depeche Mode Feten" der Wendezeit. Sie waren wild, anarchisch und voller Lebensfreude. Unsere neu gewonnene Freiheit genossen wir in vollen Zügen, und in voller Lautstärke.   

Vor genau 35 Jahren fand eine dieser legendären Depeche Mode Parties in Halle an der Saale statt. Die "Feten" in Halle stiegen damals immer im "Jugendklubhaus Philipp Müller". Daus Haus wurde später auch bekannt als "Easy Schorre", und diese ungezügelten Tanzabende waren immer so sensationell, dass wir diese lange Reise mehr als nur einmal auf uns nahmen. 

 Beispielfoto: Reisebericht, Einladungen, Briefumschlag

Da die Reisegeschwindigkeit der damaligen Reichsbahn nicht die schnellste war, brachen wir meist schon in den Mittagsstunden auf. Manchmal nahmen wir den Zug ab Grüna, andermal auch den Bus ab Mittelbach. Auf dem Hauptbahnhof von Noch-Karl-Marx-Stadt trafen wir uns mit der restlichen Chemnitzer Fanszene und stiegen in die Bimmelbahn nach Leipzig. Die Verbindung war schon damals nicht besonders, aber dank der Braunkohle im Leipziger Süden, kam man mit den Schichtarbeitern sogar zur Nachtzeit gut hin und her.  

Die schwarzen Massen aus der gesamten, restlichen Rest-Republik sammelten sich meist schon in Grüppchen in Leipzig. Man fuhr mit der S-Bahn, die sich zwar so nannte aber eigentlich auch nur ein ganz normaler Zug war, nach Halle und dort wartete man auf die restlichen partyhungrigen Fans. Etliche schleppten Kassettenrecorder mit, oder auch die beliebten, meist dreist geklauten Sportplatzlautsprecher, bemalt als orangerote BONGs. 

 Beispielfoto: wer konnte, hatte so einen bemalten BONG zumindest zu Hause

Eine schwarz gekleidete Horde von 500 abenteuerlich frisierten Menschen mit geklauten und umlackierten, eigentlich dem Staat vorbehaltenen Lautsprechern auf einem großstädtischen Hauptbahnhof, das wäre unter anderen Umständen schon mal ein Fall für das Anrücken von Stasi und Bereitschaftspolizei geworden. Aber wir waren ja schon einen Schritt weiter mit der Demokratisierung.

Dann ging es gemeinsam durch die gefühlt ewig lange Unterführung den reichlichen Kilometer bis zum Jugendklubhaus "Philipp Müller" in der gleichnamigen Straße. Ausnahmsweise war unser Namensgeber hier kein Kommunist der zu Kriegszeiten fiel oder ermordet wurde. Philipp Müller war ein "Opfer" der BRD, der bei einer Demonstration gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr 1952 zu Tode kam und daraufhin von der DDR zum großen antiimperialistischen Helden hochstilisiert wurde.

 Beispielfoto: jede Menge Chemnitzer Fans auf dem Weg zu Schorre

Nach dem Anstehen am Einlass wartete man mit Spannung, was der Diskotheker denn als ersten Song, dem immens wichtigen Opener, spielt. Besonders beliebt war damals natürlich die Kombination "Pimpf/Behind The Wheel" von der "101", aber auch "Agent Orange" war oft ein beliebter Start des Abends. Die etwas weniger mythischen DJs begannen auch schon mal mit "Nothing To Fear", aber da konnte man sich schon darauf einstellen, dass diese Jungs dann auch eher den Allerweltskram spielten. Wir waren heiß auf krachende Liveversionen, denn wir kannten das echte Gefühl dazu noch nicht. 

Damals begannen die Diskotheken immer pünktlich um 19:00 Uhr, und man hatte gute 6 Stunden Zeit zum Tanzen, was man in der Regel komplett ausnutzte, und was völlig ausreichte, da man danach fix und fertig war. Dann ging es flugs wieder zum Zug, und man kam auch gut zu Hause an, wenn unterwegs alles klappte. Dem war nur nicht immer so.  

 Beispielfoto: die Chemnitzer Fans beim Warten und die Dresdner auf dem Bahnhof

Spannend war bei diesen Feten immer, welche Leute man trifft, obwohl es nahezu immer dieselben waren. Spannend, war auch, was sie an hatten, darauf wurde immer sehr geachtet, denn einige waren für DDR-Verhältnisse immer extracool gekleidet, wahrscheinlich aus dem Theaterfundus. Von besonderem Interesse war auch, welche Videos gezeigt werden, denn so oft hatten wir nicht die Gelegenheit, welche zu gucken. 

Am beliebtesten waren immer die extatischen Liveversionen der Jungs, die man endlos langen Remixen oder dem damals so verhassten Aufkommen von House- und HipHop-Anleihen vorzog. Auf der prall gefüllten Tanzfläche herrschte ein kollektiver Rausch. Genauso musste es sich anfühlen, die Jungs live zu sehen. Bis dahin war es uns ja leider nicht vergönnt. Umso mehr gingen wir ab.

Die gezeigten Videos saugten wir in uns auf wie Schwämme, kannten wir doch meist nur die gekürzte Version aus der montäglichen Formel Eins Sendung ohne einen Hauch der Chance auf Reproduktion oder Wiederholung. Wir fotografierten sogar die einzelnen Szenen mit dem Fotoapparat ab. 

 

Beispielfoto: "Personal Jesus" fotografiert bei "Formel Eins"

So habe ich sogar noch eine ganze Reihe Fotos des megacoolen "Pimpf"-Videos. Auf einer fortschrittlichen Disko stapelte man einfach mehrere der dicken DDR-Röhrenfernseher wie Monitorboxen übereinander und schaltete sie parallel. Das Bild aufzuteilen ging damals technisch anscheinend nicht, so dass mich aber die vierfache aufgehende Isettatür aus "Never Let Me Down Again" besonders beindruckte. 

Wenn man richtiges Glück hatte, hatte jemand ein verrauschtes, kaum erkennbares Livevideo aus dem Westen, was er abspielen konnte. An einem Abend ereilte uns daher das Konzert mit der mitlaufenden Uhr am unteren Bildrand - Liverpool University, 6. November 1981. Mann, war das cool! Generell wurden "Television Set", "I Like It" und auch ganz besonders "Ice Machine" immer besonders wild abgefeiert. 

Wir führten kurze Gespräche mit unseren "Brieffreunden" obwohl man nur die wenigsten davon persönlich kannte. Viel zu viel Post wurde damals hin und hergeschickt: Fanzines, Infozettel mit der Diskografie, neuster Klatsch und Tratsch und eben auch Einladungen zur "Depeche Mode Fete", wie damals die Parties genannt wurden. 

Spannend war auch immer die An- und Abreise, da in der anarchischen Wendezeit auch Leute Oberwasser bekamen, mit denen man eigentlich nichts zu tun haben wollte. Wenn sie mal keine Ausländerwohnheime ansteckten, schnitten sie sich ihre onstzonig-rebellischen langen Haare ab und jagten frisch blankpoliert auch gern anders gesinnte oder aussehende Menschen wie uns durch die Innenstädte. 

Als wir das erste Mal in Halle waren, zahlte man noch mit den berühmten Aluchips. Ostmark, Mark der DDR. Stänkereien wegen unseres Aussehens gab es auch damals auf dem Weg schon zu Hauf, und der nächtlichen, beinahe obligatorischen Ausweiskontrolle durch die Transportpolizei, die die Bahnhöfe bewachte, konnte man eh nicht entgehen. Dabei endete diese Kontrolle jede einzelne Woche mit dem Hinweis, man Möge doch sein "Dokument der Deutschen Demokratischen Republik" nicht durch das Einlegen von westlichen Fotos in die transparente Plattenhülle entwürdigen. 

Das war damals nämlich urst praktisch. Aufgrund der Mangelwirtschaft wurden Fotos immer nur im kompakten 7x10cm Format vergrößert, und diese Pics passten perfekt in die Ausweishülle, eins vorn und eins hinten. Meist waren es abfotografierte Poster aus der BRAVO oder Autogrammkarten, die das "Dokument" richtig aufwerteten. Manchmal klebte auch ein hübscher bunter Aufkleber auf der Hülle.

Dabei profitierten wir Depeche Mode Fans in den letzten paar Jahren vor der Wende von einer gewissen Nachsicht der Behörden, waren wir doch durch das Konzert in Ostberlin im März 88 quasi über Nacht zu einer Art "Freunden des Systems" hochgestuft worden. Nur war dem beileibe nicht so. Zu stark war unsere Sehnsucht nach richtig coolen Westklamotten, statt der ganzen selbstgenähten und im heimischen Bottich gefärbtem Improvisationsbekleidung, nach raubeinigen, schwarzen Bikerlederjacken mit Rindergeruch und orginalen Docs, statt Arbeitsschuhen und Louis-Trenker-Bergziegenverfolgungsstiefeln aus der Berufsbekleidung. Natürlich nur cool mit Reißzwecken im Absatz zur optischen Aufwertung! Wir sehnten uns nach BRAVO, Popcorn und PopRocky und nach jeder Menge originalen Schallplatten, vorallem aber nach richtig echten Konzerten ohne Geheimniskrämerei und Kartengeschacher. Wir wollten die Jungs livehaftig sehen und uns nicht mit den frisch eingestuften Ost-Epigonen "Lotos" zufrieden geben.

Aber bis dies endlich so weit war, feierten wir uns ausgelassen durch die Rest-Republik.   

Unseren Reisebericht schrieb damals unsere Fanclubfreundin Anja: 

"Mode Fete am 08.09.1990 in HALLE
 
- 9.30 sind wir (Mike, Sven, Frank, Heike + ich) mit dem Bus nach Chemnitz gefahren
- auf dem Bahnhof in Chemnitz trafen wir uns mit den Chemnitzer Modes (und wir wurden erstmal mit Fußballfans verwechselt)
- 11:00 fuhren wir mit den Bummelzug von Chemnitz nach Leipzig & von dort weiter nach Halle
- als wir in Halle ankamen waren wir erstmal die einzigen Modes auf dem Bahnhof, aber mit der Zeit füllte sich dann die Bahnhofshalle mit schwarzen Gestalten
- alle zusammen liefen wir dann zu dem Jugendclub, wo die Fete stattfinden sollte
- das Wetter war wie immer (The Sun And The Rainfall)
- als wir draußen stehen mußten, weichte es uns erstmal ein & einige bekamen Probleme mit den Haaren
- gegen 19.30 begann dann die Fete
- ca. 700 DM's waren da

VIDEOS:
1981 Live: Television set/Just can't get enough/New life/Puppets/Tora Tora Tora/Photographic
DM Live in Hamburg: u.a. Blasphemous Rumours/If you want/Shame/Two minute Warning/Somebody
Fußballspiel: Martin & Andy spielten gegen eine Mannschaft aus Sturtgart/Alan war Kameramann & Dave Zuschauer/Andy schoß ein Tor

- im Großen und Ganzen war die Fete ganz okay, obwohl manche Lieder hätten weniger gespielt werden können (z.B Just Can't Get Enough 4-mal)
- 1:30 gingen wir Chemnitzer dann los zum Bahnhof
- die Heimfahrt war echt belastend!
- in Leipzig stand unser Zug erstmal ne halbe Stunde vor dem Bahnhof & wir verpassten unseren Zug
- 3:15 konnten wir dann endlich nach Geithain weiterfahren
- dort pennten wir erstmal auf dem Bahnhof
- ca. 6:30 kam dann unser "big" Zug (1 Lok + 1 Waggon) & wir fuhren nach Chemnitz
- dort mußten wir erstmal 1,5h warten bis der Bus fuhr
- ca. 9:30 waren wir dann zu Hause
- keine Zwischenfälle mit Skins
So, das war's!"

Puh, diesmal waren wir satte 24 Stunden unterwegs! Und wieder fröhnten wir dem Kult, anstatt netten Begegnungen oder skurrilen Begebenheiten, lieber die gezeigten Videos aufzuschreiben. Trotzdem sind wir dankbar, überhaupt noch Notizen davon zu haben.

Auffällig herauszulesen ist wirklich die Zeitenwende in der wir uns damals bewegten. Sprachen wir beim Bericht aus der Waldbühne Augustusburg im Juli noch von störenden "Heavy's", sind es hier schon die damals unvermeidlichen "Skinheads" (im Sinne von Boneheads), die uns gern tyrannisierten. 

Wer erinnert sich nicht an den Fascho-Überfall auf die Stadthalle Chemnitz, mit anrückendem Rollkommado und unserem Rico berauscht schlafend in den Blumenkübeln vorm Eingang zwischen den ganzen Polizeihunden? In Halle musste man damals durch eine lange Unterführung mit mehreren Zugängen. Wenn da diese gewaltbereiten, haarlosen Primaten auftauchten, saß man in der Falle. Und so verhielten wir uns immer mucksmäuschenstill, wenn wir nachts auf dem Nachhauseweg diese Unterführung passierten.

Leider müssen sich unsere Kinder heutzutage immer noch mit derartigen Problemen herumschlagen, da angefeuert durch gewisse politische Strömungen um vermeintliche Alternativen, dieser ganze eklige Naziscum immer wieder mit nach oben gespült wird.

Aber im Frühling des Jahres 1990 herrschte fröhliche Anarchie. Damals sind die Toten Hosen aus Düsseldorf tatsächlich mit dem Fahrrad durch die untergehende DDR getourt. Dieses Noch-FDJ-Klubhaus in Halle trug das Siegel „Blaues T“, das die Jugendorganisation dem nur „Schorre“ genannten Haus für „niveauvollen Jugendtanz“ verliehen hatte.

 Ein trauriger Anblick: die Schorre im Jahre 2024

So langsam kam der Rock, den wir bisher nur aus dem Westfernsehen kannten, in den Osten. Wo bis dahin DDR-Größen wie City, Pankow oder der unvermeidliche Gerhard Gundermann aufspielten, tauchte plötzlich alles auf, was Rang und Namen hatte: von New Model Army bis Motörhead. Plötzlich hieß es Philipp Boa statt Philipp Müller. Die Kulturhäuser ringsum fingen an, zu schließen. Alternative Räume eröffneten sich so auch in Chemnitz: B-Plan, Fuchsbau, Kasch oder VOXXX. Tanzen gehen konnten wir von Donnerstag bis Sonntag. 

Bis zu den übergroßen Monsterdiskotheken in Zirkuszelten, wie dem "Sky" in Röhrsdorf oder dem "Mega Drome" in Radebeul, sollten noch ein paar Monate vergehen. Vergehen sollte aber auch die Kultur, einfach mal beim DJ eine Runde Depeche Mode zu bestellen. Rein in den Saal, mit der Hand einen schnittigen Kastenkopf geformt, dazu eine Pirouette in die Luft gemalt, schon ging es los. Später saßen wir leider öfter an der Bar, in der Schmollecke oder gingen lieber gleich ins Billardcafé. Menschen in neonfarbenen Schutzanzügen, mit Schweißerbrillen und umgeschnallten Staubsaugern hatten nun unseren Platz auf den Tanzflächen der Stadt eingenommen. 

Aber die "Schorre" in Halle war einer der Orte, wo wir anfingen, unsere neuen Privilegien der Freiheit zart zu nutzen. Wie emanzipierten uns von unserem gewohnten Terrain, wir entronnen unseren Eltern und den Zwängen des immer noch bestehenden, menschenverachtenden Systems. Unser Herz wird immer auch dort schlagen, wo wir ein paar der schönsten Stunden unserer Jugend verbrachten, und wo der Schweiß von der Decke tropfte... 

Die Bilder zeigen Protagonisten der Chemnitzer Fanszene ca. 1990 und stammen fast alle vom "Ehem. Depeche Mode FC Black People". Besucht bitte ihr Facebookprofil! 
Sonstige Fotos: M.Steinbach
(stx)

 

 

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