"All You've Got To Do Is Believe The Faith Healer..." - Himmlischer Übervater oder höllisch überbewertet? - Eine blasphemische Diskussion...
"Verklärung!" - Der Duden spricht dabei von "Beschönigung, Darstellung in einem besseren Licht". Weitere Definitionen sprechen von "Idealisierung", "Glorifizierung", "Verherrlichung", "Apotheose", ...
Zuschreibungen jenseits menschlicher Vorstellungskraft! Glaubt man den Sozialen Medien, war er ein Musiker biblischen Ausmaßes.
Nur, warum eigentlich?
Zuerst kam der Bruch, der im darauffolgenden Jahr seine akustische Inkarnation als "A Broken Frame" finden sollte. Der einstige Hauptsongschreiber verlässt die Band. Der stabile Rahmen mit den vier Ecken zerbarst. Derjenige, der für fast alle Songs der Frühphase und des ersten Albums verantwortlich zeichnen sollte, hatte sich sang- und beinah klanglos verabschiedet und machte jetzt sein eigenes Ding.
Doch Depeche Modes Mentor und Leitfigur Daniel Miller wollte die Kuh von nun an zweimal melken. Ersatz musste her. Kein komplett neuer Vince, zunächst nur jemand, der auf der Bühne seinen Part ausfüllen sollte. Was folgte, war die berühmte Annonce.
Stand "der Neue", aber ein ganz klein wenig zu alte, das Jahr 1982 über lediglich als minijobbender Livekeyboarder zur Verfügung, besiegelte man 1983 den Handshake und nahm ihn als festes Mitglied in die Band auf. Bei Erscheinen der Single "Get The Balance Right" wurde er erstmals als offizielles Bandmitglied geführt, durfte gleich an dessen Rückseite "The Great Outdoors" mit herumschreiben und landete prompt prominent platziert im Video.
Sein Beitrag bis dahin - mit einer viel zu dünnen Jacke ins winterliche New York fliegen, schön spielen und die Ohren spitzen. Sein Beitrag danach - Martins Songs interpretieren und in eine halbdunkle Melange aus Teeniepop und Düsterrock gießen. Martins zarte Künstlerseele, ausgedrückt durch einen klassischen Macher. Funktionsweise: effektiv und weitestgehend klaglos.
Seine Vorbeschäftigungszeiten hat unser "Filou in spe" bei einigen Bands von britischer Regionalbekanntheit absolviert. "Real To Real" (nicht verwechseln mit den HipHopsern von "I Like To Move It"!), "The Hitmen", "The Dragons" oder "Dafne And The Tenderspots", die es sogar auf einen klitzekleinen Hitparadenerfolg namens "Disco Hell" schafften.
Die bekanntesten Vertreter in dieser Aufzählung sind womöglich immer noch "The Korgis". Verbal betrachtet, ein nicht ganz ernst gemeinter Schabernack aus den kurzbeinigen Hunden der Queen und der beliebten japanischen Synthesizerschmiede. Diese Jungs durften gar hin und wieder ins Fernsehen. Ihren wohl größten Hit "Everybody's Got To Learn Sometime", gab es später sogar von Beck, Erasure oder dem italienischen Bluesrocker Zucchero.
Dann kam THE Depeche Mode.
Um den blutjungen und etwas schreibfaulen Martin Gore zu entlasten, erhoffte man sich nebebei noch einen begnadeten Songwriter. Seine kompositorische Beiträge zu Depeche Mode blieben aber nach den beiden Glückstreffern der "Construction Time Again" qualitativ höchstens bessere B-Seiten.
Im holprigen „If You Want“ lässt er Dave nahezu komplett auf einer einzigen Note rumhacken. Ein Song, der erst ewig braucht um in Gang zu kommen, und der dann gesanglich mehr einem krakeelenden Hooligan ähnelt, der in sparsamen drei Dreizeilern zur Partytime ins Stadion ruft. Das sympathische, synthetisch-verspielte "Fools", oder das lediglich durch seinen bombastischen Reverbsound der Marke "Hansa" beeindruckende "In Your Memory" sahen nie die Oberfläche einer Langspielplatte. Sie blieben B-Seiten.
Lyrisch blieb unser Neuzugang zudem ein außerordentlicher Technokrat, seine prosaischen Ambitionen begrub er recht rasch. Kompositorisch hört man ihn noch als Co-Autor von "Work Hard", "Black Day" und "Christmas Island".
Daniels strenge Qualitätsprüfung funktionierte also.
Parallel zum produktionsunterstützenden Neusortieren in der hinteren Reihe stieg sein eigener Plattenoutput. Damals ein wahrer Gemischtwarenladen aus Klavierspiel, gespickt mit soundtechnischen Verwurstereien alter Depeche Mode Samples. Erstmals zu hören auf seinem Bastelprojekt "Recoil 1+2", benannt nach den beiden Seiten der EP. Sein erster Longplayer "Hydrology" fasst seine Stärken in den drei unterschiedlichen Songs gut zusammen - mit zehn Fingern Klavier spielen und dabei immer fett den Sampler füttern.
Die 1992er Scheibe "Bloodline" besticht durch Anleihen bei Indierock, zeitgemäßen Clubsounds und klassisch-schrägem AOR. Zumindest in unserer damaligen Wahrnehmung, bot sie mit dem Aufbieten aktueller Hitlieferanten, wie Toni Halliday von der Band "Curve" oder Labelmate Moby, noch am ehesten Bandbreite und Substanz.
Später gesellt sich allerhand durchwachsenes Elektrogefrickel zu seiner Diskografie, zwar mit angenehm hörbarer Produktion, aber nur leidlich vernehmbarer Ambitioniertheit. "Liquid" und "subHuman" blieben inhaltlich zwar nicht unbedingt blass, aber trotzdem wenig schmissig.
Unsere "Studio-Assel" vergrub sich immer weiter in düsteren TripHop und verabschiedet sich meilenweit vom klassischen Songschema. Sein mittlerweile zum Trademark gewordener Recoil-Sound wurde vorhersehbarer, die Samples austauschbarer, der Klang abgenutzer.
Beim Doppelalbum "Unsound Methods", was beinah zeitgleich mit "Ultra" erschien, befanden wir uns gerade noch in der Verarbeitungsphase vom Ausstieg unseres "Techno-Gottes", und standen deshalb seinen eher orchestralen, "The Orb"-ähnlichen Ambientphantasien relativ offen gegenüber. Ein technischer Vorreiter war er deswegen nicht. Nach seinem eigenen Bekunden, liegen "Ultra" und "Unsound Methods" jeweils an unterschiedlichen Polen ihrer musikalischen Auffassung, und dem will ich auch gar nicht widersprechen.
Sein stoisch-technoider Ansatz nahezu gleichbleibend schleppender BPM, zieht sich durch sein Schaffen, wie ein roter Faden. Das Konzept kann man ausgezeichnet in "A Strange Hour In Budapest" nachhören. Hier hinterleuchtet er sein persönliches Gesamtwerk auf einem monotonen, stumpfen Beat, und das in über einer Stunde Laufzeit.
Mit der über die Jahre hinzugewonnenen Vielfalt, musikalischen Abwechslung und inhaltlichen Tiefe seiner Ex-Kollegen, ist es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu vergleichen.
Er wollte immer viel, manchmal vielleicht etwas zu viel, vorallem aber viel
übereinander. Immerwährend stapelt er seine Sounds nach einem festen Muster. Das ewig gleiche Schichten von Schichten als dauerreziprokes
Zwiebelprinzip. Immer mit dabei, die Stoppuhr.
Der immer als seine allerhöchste "hör-doch-wie-sie-heute-klingen-könnten! "-Referenz herangezogene, "wenn-er-doch-nur-noch-dabei-wäre!“-Mix von „In Chains“ benötigt dieselben Äonen, bis er in Fahrt kommt, wie das dröge "If You Want" von 1984. Das cinemascopeartige des aus analogen Elektronika herausgeschälten Originals fehlt völlig. Das ein überlanges Intro durchaus interessant und wie ein sich einstimmendes Orchester klingen kann, beweist das Original gleich selbst. Der Remix strotzt vor seltsamen Fiedeleien übereinandergetürmter Samples aus einer längst vergangenen Ära und gaaaanz viel Langeweile.
Erstmals ganz von der Leine, ließ ihn Daniel bei den Aufnahmen zur "Music For The Masses". Hier durfte sich unser "Studiocrack" nach seiner Lehrzeit bei ihm und Gareth endlich voll entfalten. Daniel hatte für sein "Baby" Depeche Mode einfach keine Zeit mehr. Diese Rolle musste fortan ein anderer füllen. Jemand technisch bewandertes musste übernehmen, und sich gleichzeitig mit einem neuen Produzenten arrangieren. Er lieferte.
Das erste kleine Meisterstück unseres "Hans Dampf" entstand durch die Hinzugabe von klassischer Rockmusik und deren Verpaarung mit allerlei Sounds fremder Menschen. So beginnt das Album dreist mit "Carmina Burana" und verbasteltem Led Zeppelin meets New Order Schlagwerk.
"Interpolation" nennt man das Verwenden verfremdeter Samples. Interpolierte Sounds müssen nicht creditiert werden, können aber trotzdem urheberrechtlich problematisch sein. Carl Orff, Gustav Mahler, Michael Nyman oder Edgar Froese, meist Ennio Morricone, und viel zu oft die großen John Bonham und Stephen Morris. Alle spielen auf nahezu allen Depeche Mode Platten der mittleren Phase ungenannt mit. Die häufig zitierte, außerordentliche Kreativität in der Herstellung ihrer "bandeigenen" Sounds, stammt vorwiegend aus der heimischen Plattensammlung unseres "Bosses".
Nach und nach wurden mehr und mehr Quellen angezapft, die vom reinen Töne-,
Geräusche- und Silvesterraketensampling der After-Construction-Jahre abwichen. Unser komponierender und interpolierender "Tausendsassa" klaute am Anfang sogar bei Depeche Mode selbst. So entstammen die Soundschnipsel am Ende der Liveversion von "If You Want" doch glatt dem verhackstückten Refrain zu "Master And Servant".
Ein weiterer verbriefter Raub bei sich selbst, ist "Pleasure Little Treasure". Hier wurde kurzerhand "Everything Counts" zu Rate gezogen, um die musikalischen Durststrecken eines überlangen Remixes mit seinen vermeintlichen Zaubersounds zu überdecken.
Apropos Durststrecken. Wie man aus einer wunderschönen Filmmusikballade einen nicht enden wollenden Langweiler machen kann, führt er uns eindrucksvoll im "Jazz-Mix" zu "Death's Door" vor Augen.
Zwei Jahre vor seiner ersten Longplayer-Produktion für Nitzer Ebb's "Ebbhead", haute unser "Produktionsgenie" ein richtiges Ding raus! Dieses keck entliehene Vermächtnis garantiert ihm für immer einen Platz in den ewigen musikalischen Bestenlisten.
Stellt euch vor, ihr döst bekifft und leicht angesäuselt in einem ziemlich von der Außenwelt abgeschnittenen, reichlich luxuriösen dänischen Aufnahmestudio vor euch hin. Ihr überlegt die ganze Zeit krampfhaft, wie ihr das lahme Kirchenlied eures Kollegen, was euch schon eine ganze Weile wegen der blöden jammernden Orgel und dem ningeligen Gesang ziemlich auf den Sack geht, etwas aufpeppen könnt. Genau in diesem Moment kommt plötzlich supergut gelaunt euer nerdiger Produzent hereingestürzt. Mit ner Kanne leckerem Tee und den allerneuesten, heißen amerikanischen House-Maxis unterm Arm.
Eine davon stammte zufällig von "Ten City".
In diesem einsamen dänischen Studio, weit draußen im Grünen, scheint die Kreativität dereinst wirklich am Ersterben gelegen zu haben. Mangels zündender Idee mopste man sich gleich noch die Bassline zu "Clean" bei "One Of These Days" von Pink Floyd. Hier wurde weder gesampled noch interpoliert, hier wurde einfach eifrig nachgebastelt.
Beim darauffolgenden Album hört man es immer noch nicht auf Anhieb. Nur beim Schlagzeug von "Get Right With Me" erkennt man sofort eine offensichtliche "When The Levee Breaks"-Adaption. Unser "Edeltechniker" macht sich hier nicht mal mehr die Mühe, es nicht wie das Original klingen zu lassen.
Später auf der dazugehörigen "Devotional Tour", staunten die Fans von Soundtracks italienischer Räuberpistolen Bauklötze. Von dieser filmmusikalischen Komposition zu "Top Job - Diamantenraub in Rio" reichen die ersten 12 Sekunden, um zu wissen wo er in des Barthels Schuhen hingewalkt ist, um den Most zu holen.
Den Vogel der heiligen Verballhornung schießt aber der Schlusssong der "Songs Of Faith And Devotion" ab. Der komplette Schlagzeugsound von "Higher Love" ist eine exakte Kopie der Drumspur von U2's "So Cruel" vom Album "Achtung Baby" (1991).
Lag's vielleicht noch irgendwo rum? Hatte Flood das Tape zufällig noch in der Aktentasche stecken? Hier musste wohl dringend was fertig werden. Die Tracks sind sogar beide gleich lang.
Es muss Dub-König Adrian Sherwood gewesen sein, der ihn zu diesen immensen Interpolationsorgien animiert hat. Er hat ihm wohl auch geraten, erstmal seine ureigenste Plattensammlung nach verwertbaren Klängen zu durchforsten. Wer Adrians Remix "Are People People?" kennt, dem wird das hier sehr bekannt vorkommen.
Wie wir schon sagten, ein gelehriger Schüler, unser "Soundgenie"!
Erster zweifelsfrei zuordenbarer Klau vom "#klauschwilder", ist der Chor in "Sometimes". Dieser entstammt Louis Armstrongs Version von "(Sometimes I Feel Like A) Motherless Child", ungefähr zu hören bei 1:20 min.
Man könnte die Liste noch endlos fortsetzen. Unser Zauberlehrling hat große Teile seiner inszenierten Dramatik permanent und systematisch abgekupfert. Im Internet findet man ganze Datenbanken mit den teilweise arg zwielichtigen Quellen unseres "Klangkünstlers".
Drohten der Band ab Mitte der 90er womöglich zahlreiche Klagen nicht genannter und um ihre Tantiemen betrogener Künstler?
Erst mit Erscheinen von "Ultra" kehrte hier wieder Sparsamkeit ein, und unser "musikalischer Genius" warf den verbliebenen Dreien prompt vor, sie hätten sich dreist bei den Beatles bedient.
Nun ist gegen kreatives Sampling spätestens seit der Erfindung von HipHop rein gar nichts einzuwenden. Kaum ein modernes Musikstück kommt heutzutage noch ohne umfangreiche Selbstbedienung im prall gefüllten Regal der Musikhistorie aus, und das nicht erst, seit sich Michael Jackson für "Beat It" bei Denny Jeagers "Incredible Sounds Of Synclavier" inspirieren ließ.
Und doch war "Mr. Emulator" 1982 der richtige Mann an der richtigen Stelle. Daniel Miller wusste genau wen und was er hier an Bord holt. Zuvorderst klassisch ausgebildeter Musiker, dazu ein veritables Arbeitstier ohne große Feierabendambitionen. Vielseitig gebildet und belesen, semantisch begabt, verbal elegant, ein Gentleman. Augenscheinlich intelligent, musikalisch versiert und breitflächig interessiert. Kurz gesagt ein Glücksfall.
Irgendwann kam dann der Tag, an dem unser "Multitalent" dachte, mit Depeche Mode sei es komplett vorbei. Martin war ein unverbesserlicher Suffkopp, Andy ein Psycho, und Dave sowieso schon halb tot. Wohl schon die ganze Tour über. Andy wollte keine weitere Platte mit ihm machen, da er von ihm gemobbt wurde.
Trennungsgerüchte machten schon vor der "Devotional Tour" die Runde. Ganz unbegründet sind sie nicht. So gibt bereits beim internationalen Fanevent zum Release von "Songs Of Faith And Devotion" Martin die Frage nach Auflösung der Band an den späteren Abtrünnigen weiter (ab ca. 25:40 min). Seine Antwort ist durchaus vielsagend, wenn man weiß, was später kam.
Im Jahre 1995 war für ihn endgültig Schluss. Nach seiner Zeit bei Depeche Mode erschienen noch drei Langspieler als "Recoil", ein paar Remixe und etwas nerdiges, aber kundiges Geschreibsel über "Talk Talk", musikalisch garniert mit zwei Coverversionen.
Von der Band wurde er zuletzt 2006 zur Überarbeitung der Langspielplatten in trendigen 5.1-Surround-Sound für die damalige "Remastered"-Serie ins Studio gebeten. Die begleitenden Kurzfilme zur Historie der Band - dringend sehenswerte Augenöffner!
Eine Art Neustart sollte 2016 die Produktion von Dedes "Calling the Clock" darstellen.
Seine gesamten Memorabilia aus seiner Zeit mit Depeche Mode
bot er im Jahr 2011 zur Versteigerung feil. Gerüchten zufolge, wurde er
2015 sogar aus der Firma Depeche Mode Ltd. komplett ausgezahlt. Letztes Jahr hat er seine edle Villa in Horsham/West Sussex verkauft und
seine komplette Plattensammlung feilgeboten. Man zog ins beschauliche
Norwegen.
Bei seiner fanseitigen Heiligsprechung 2010 in der Royal Albert Hall hat der Typ mit den unzähligen Zuschreibungen Klavier gespielt. Ein simples aber stimmungsvolles Lied, was er sehr gut kannte und wahrscheinlich so oft in seinem Leben gespielt hat, das man ihn hätte nachts wecken können. Nicht weniger, und nicht mehr. Allein auf der Bühne waren es ganze 162mal.
Ein aus dem Handgelenk geschüttelter Akt der Nächstenliebe für krebskranke Kinder, oder doch ein kalkulierter Promostunt für seine gerade anstehende Best Of Recoil-Platte samt dazugehöriger "Selected"-Tour?
Organisator und Einladender dieses speziellen Events zugunsten des "Teenage Cancer Trust", war übrigens niemand geringeres als Familie Fletcher, die sich seit Jahrzehnten für dieses Thema engagiert.
Ob er seinen Weggang jemals bereut
hat, weiß nur er. Dreißig Jahre ist das nun genau her. In Interviews spürte man immer, dass er seine ehemaligen Weggefährten noch ganz genau beobachtet. Geäußert dazu, hat er sich aber immer
diplomatisch.
Dabei nahm er sich, seinen Beitrag und sein Vermächtnis wohl hin und wieder einen Tacken zu wichtig. Sein schlicht per Fax verkündeter Ausstieg wurde damals gar mit mehreren Tagen Sperrfrist verschickt, damit niemand von außerhalb zu früh Bescheid wusste. Ein Geburtstagsgeschenk an sich selbst, was den Eindruck erwecken sollte, dass es einer Erlösung nahe käme. Die Jungs haben ihn wohl anscheinend geradezu gewungen, die Band zu verlassen?
Dabei ist sein "Statement" mehr ein klassischer "Sankt Alan", als er wohl selbst vermuten würde. Genau wie seine Musik. An der Oberfläche ist es geliert, gestyled, clean und nahezu antiseptisch, aber den Grund für sein Handeln, die Basis für sein Tun, die sucht sich unser "Saubermann" schon wieder bei anderen. Bewärtes Quellenmanagement also.
ALAN WILDER STATEMENT
Aufgrund
zunehmender Unzufriedenheit mit den internen Beziehungen und
Arbeitspraktiken der Gruppe habe ich mich mit einigem Bedauern dazu
entschlossen, mich von Depeche Mode zu trennen. Meine Entscheidung, die
Gruppe zu verlassen, fiel mir nicht leicht, insbesondere da unsere
letzten Alben ein Hinweis auf das volle Potenzial waren, das Depeche
Mode ausschöpfte.
Seit meinem Eintritt im Jahr 1982 habe ich mich
stets bemüht, meine ganze Energie, Begeisterung und mein ganzes
Engagement in den weiteren Erfolg der Gruppe zu stecken und habe dies
trotz einer anhaltenden Ungleichverteilung der Arbeitsbelastung
bereitwillig angeboten. Leider erhielt dieser Beitrag innerhalb der
Gruppe nie den Respekt und die Anerkennung, die er verdient
Obwohl
ich glaube, dass sich das Niveau unseres musikalischen Schaffens
verbessert hat, hat sich die Qualität unserer Zusammenarbeit so weit
verschlechtert, dass ich nicht mehr das Gefühl habe, dass der Zweck die
Mittel heiligt. Ich möchte niemanden in Verruf bringen; es genügt zu
sagen, dass die Beziehungen ernsthaft angespannt, zunehmend frustrierend
und letztendlich in bestimmten Situationen unerträglich geworden sind.
Unter
diesen Umständen habe ich keine andere Wahl, als die Gruppe zu
verlassen. Es erscheint mir daher vorzuziehen, relativ erfolgreich zu
gehen, und da ich immer noch eine große Begeisterung und Leidenschaft
für Musik habe, freue ich mich auf die Aussicht, neue Projekte zu
verfolgen.
Die verbleibenden Bandmitglieder haben meine
Unterstützung und meine besten Wünsche für alles, was sie in Zukunft
anstreben, sei es gemeinsam oder einzeln.
1. Juni 1995
Unser abtrünniger "Soundtüftler" war der Mann, der ab 1987 die Fäden zusammenhielt und mit Hilfe von den richtigen Leuten richtig zusammenknüpfte. Das er aus einem Beinahe-Kirchenlied den übergroßen Discohit mit jahrzehntelangem Nachbrenner gemacht hat, ist nur eines seiner prägnantesten Vermächtnisse.
Höflichkeit und Bescheidenheit haben ihn nie in den Vordergrund drängen lassen. Wohl weil er auch genau wusste, dass er gegen die beiden Über-Egos der Band kaum eine Chance gehabt hätte. Ein williger Arbeitssoldat für Martins Superstarambitionen.
Als eine der diversen Identifikationsfiguren der Band, war unser "Mr. Obercool" damals für viele ein Vorbild. Etliche haben versucht, sich wie er zu kleiden, zu frisieren oder schleppten allerorten Schlagzeugstöcke mit hin. In Lederhandschuhen versteht sich. Von unseren vier Jungs, ihren Songs und Statements, haben wir mit Sicherheit mehr über das Leben gelernt, als von unseren Eltern.
Mitten im Warten auf ein neues Lebenszeichen waren wir wirklich geschockt, dass ausgerechnet er die Band verließ.
Nun, mit 30 Jahren Abstand betrachtet, war es das Beste, was den restlichen Drei passieren konnte.
So konnte seine alte Band weiter voranschreiten, blieb stets abwechslungsreich, zeitgemäß und innovativ, und sicherte damit ihren bis heute anhaltenden Erfolg. Jede Platte folgt seither einem ganz eigenen Mythos, einem speziellen Thema und einem konsequenten, albumspezifischen Stil. Depeche Mode schufen eindringliche Konzeptalben ohne es selbst so zu sehen.
Martin Gore war immer ein progressiver und zukunftsweisender, fokussierter Musiker. Ihm ist es gelungen, seine Band immer mitzuziehen und zu begeistern. Musikalisch genauso, wie die Modernisierung ihrer Images und ihrer Artworks. Wäre unser "Studiocrack" immer noch dabei, beide hätten sich gegenseitig mehr behindert als genährt.
Allerdings hat unser "Bastelexperte" einige Musik mit erschaffen, die uns nun seit gut 40 Jahren begleitet. Der vielbeschworene, aber etwas stark abgenudelte Satz vom "Soundtrack unseres Lebens". "Violator" wurde einst sein Meisterwerk, "Songs Of Faith And Devotion" sein Schwanengesang. Nur ist das eben schon wieder ein halbes Leben her.
Ihn im dreißigsten Jahr seines Weggangs daher immer noch als
mutmaßlichen Heilsbringer in den Depeche-Mode-Himmel zu heben, grenzt
entweder an musikalische Ignoranz oder historische Verklärerei. Come On!
Diese Glorifizierung unseres einstigen "Helden" taugt heutzutage höchstens zur nostalgischen Selbstreferenz und bedient einzig und allein museale Zwecke bei der Vernissage persönlich kultivierter Jugenderinnerungen.
Mit Alan Wilder haben Depeche Mode für uns ihre prägnantesten Platten abgeliefert, die sich in unser Hirn eingemeißelt haben, weil wir unsere ganze Zeit und Hingabe damals für die Band, in die Musik investieren konnten. Nächtelang haben wir zu ihren Klängen durchgetanzt in der unbeschwertesten und interessantesten Zeit unseres Lebens. Damals, "when the walls came tumbling in".
Depeche Mode waren da die coolsten Säue dieses Planeten. Wir auch!
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Vielen Dank für Deinen Kommentar. Er erscheint, wenn dieser durch unsere Moderatoren geprüft wurde.