"I'm Leaving Bitterness Behind This Time..." - Betrachtung eines umstrittenen Meisterwerks

Viele Fans verbinden mit "Sounds Of The Universe" den Tiefpunkt von Depeche Mode. Zu lasch, zu flach, zu kieksig soll dieses Album sein. Keine tollen Songs. Maximal "Wrong" wird als halbwegs akzeptabel wahrgenommen, da es eine Single war. Der mittig im Album thronende Gospel-Burner "Peace" scheint so ziemlich alle Hörer zu überfordern.  
 
Ebenso die minimalistische Bildsprache. Das Cover erinnert vielleicht am ehesten an ein Mikado. Genausogut könnte es das Dimensionsportal von Stargate sein, eine Hommage an die Nazca-Linien oder stilisierte Kornkreise. Alles davon wäre wohl richtig.

 
Haptisch betrachtet, reichten uns die Jungs damals ein wunschlos-glücklich-Paket über den Ladentisch: drei CD's randvoll mit Album, Remixen, raren Demoaufnahmen und einer Handvoll mutmaßlichen B-Seiten. Dazu eine DVD mit dem immer sehnsuchtsvoll erwarteten EPK, einem Making-Of und dem Album selbst in mehreren Surround-Mixen, darunter Dolby Digital und DTS. Zwei grandiose Bücher, mehrere Postkarten, Poster, zwei Anstecker. Alles in einer wundervollen Box, und alles in allem eine riesige Wundertüte für uns Fans. 
 
In erster Linie war diese opulente Box ein Tribut an die damals aufstrebende Streamingindustrie, an illegale Musiktauschbörsen und an sinkende Verkaufszahlen. Unsere Ansprüche an kommende Veröffentlichungen schraubten sie damit leider ins unermessliche, und bis zu den üppigen 12-Inch-Singles-Boxen kam dann leider nur noch die etwas enttäuschende graue Pappschachtel zu "Alive In Berlin". Schade! 


Die Vorabsingle zu "Sounds Of The Universe" feierte ihre Weltpremiere im deutschen Fernsehen beim  "Echo"-Award. Von "Wrong" gibt es lediglich eine einzige 7"-Pressung in marbled-red, die vorrangig für den deutschen Markt bestimmt war, trägt sie doch einen deutschsprachigen Hinweis auf die Farbe der Platte auf dem Cover. Es sollte die vorletzte, offiziell erschiene 7"-Single der Band werden. Die B-Seite "Oh Well" ist die erste gemeinsame Komposition von Martin und Dave.
 
 
"Unendlich negativ, spröde, sperrig, aber drei Minuten lang und simpel aber genial gestrickt - keine andere Band würde eine so schräge Nummer im Mainstream unterbringen." tönte damals die VISIONS. Das Video zu "Wrong" wurde für einen Grammy nominiert und erzählt eine seltsam verstörende Geschichte, die quasi ohne die Band auskommt. Der mutmaßlich gekidnappte Star des Videos wird gespielt von Julian Gross, einem ehemaligen Labelkollegen von Depeche Mode bei Mute Records. Er war bis 2014 Drummer der "Liars". Gedreht wurde "Wrong" in mehreren Straßenzügen im Finanzdistrikt von Los Angeles. Dazu gab es später auf der Tour-DVD noch eine kraftvolle Tourprobenversion.


Möglicherweise aus künstlerischen Gründen, oder vielleicht auch wegen Daves Erkrankung, wurden die Videos zu "Sounds Of The Universe" fast komplett ohne die Band gedreht. Bei der zweiten Single "Peace" sieht man die Band nicht mal mehr als Bewegtbild, sondern nur als großes Werbeposter. Hauptdarstellerin des "Peace"-Videos ist die in Rumänien sehr bekannte Schauspielerin Marina Dinulescu. Gedreht wurde vorwiegend in der rumänischen Hauptstadt Bukarest sowie in Brazii de Sus. "Peace" war mit seiner hübschen weißen runden Scheibe die letzte 7"-Single die durch Depeche Mode selbst das Licht der Welt erblickt hat. 
 
  
Das quietschbunte Video zu "Hole To Feed" mit der Teenage-Playbackband, die sich in trendige Raverklamotten geschmissen hat und selbst sehr verstört erscheint über das, was sie da mit dieser riesigen Abschleckerei auslösen, entstand ebenfalls im beliebten Los Angeles. Die Jungs selbst, sieht man dieses Mal nicht mal mehr auf einem T-Shirt. Das "Globe Theatre", in dem dieses Video gedreht wurde, ist nicht zu verwechseln mit gleichnamiger Shakespeare-Spielstätte in London. Es liegt in Downtown LA und ist noch ein baulicher Zeuge der großen Hollywood-Ära vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals wurden diese Spielstätten nicht nur als Kino, sondern auch als Revuetheater genutzt, was man im Film auch deutlich erkennt.
 
 
Etwas untergegangen ist danach noch das CGI-Video zu "Fragile Tension", was es in meiner Wahrnehmung lediglich zur Untermalung eines Mobilfunkwerbespots geschafft hat. 
 
  

Das ikonische Foto auf der Rückseite von "Sounds Of The Universe" hat Anton Corbijn in New York geschossen. Dabei handelt es sich um die "Unisphere" im Flushing Meadows Park von Queens.
Weitere Fotos für das Booklet und das Tourbuch wurden in der Gegend um San Francisco gemacht, darunter im berühmten Muir Wood Nationalpark, bekannt für seine Mammutbäume, dem Chabot Space- and Science Center, oder ganz profan in den Hügeln der Stadt mit Blick auf den Eureka Peak. Die Geschichte dieser Stadt Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre könnte nicht passender sein für das Album.
 
 
Für den visuell aufmerksamen Konsumenten, bringt "Sounds Of The Universe" seine Gebrauchsanweisung gleich mit. „Songs in the key of space“ steht als freundlicher Endverbraucherhinweis auf das Cover gedruckt. So, wie man es bereits von früheren Alben der Band kennt. Selbst schon bei den ersten Tönen des knapp siebenminütigen "In Chains" stellt sich ein Gefühl des Instrumentestimmens ein. Wie ein Orchester vor einem großen Konzert, wie Martin einst bemerkte.
 
Bei "Tonart des Weltalls" denkt man wohl zuallererst an Stille, Dunkelheit und wundervoll leuchtende Sterne. Dazu an die Schönheit und Zerbrechlichkeit unserer Erde. Genauso denkt man womöglich an den Satz "der Weltraum - unendliche Weiten“, die einleitenden Worte zum Raumschiff Enterprise mit seinem Entdeckergeist, oder an das Star Wars Intro, vielleicht an "2001: Odyssee im Weltraum". Das Jahrzehnt passt auch hier. 
 
Musikalisch betrachtet, denkt man an die atmosphärischen Kompositionen eines Jean Michel Jarre, von Tangerine Dream oder eines jungen Mike Oldfield. Man denkt an das ausufernd brillante "Hallogallo" von Neu!, die offenen Soullandscapes von Stevie Wonders "Innervisions". Nicht zu vergessen, die legendären frühen Kraftwerk und die spielerischen Melodiebögen der "Lieblingsband deiner Lieblingsband" (Edgar Wright), den Sparks. Musik also, mit einem ganzen Batzen an üppigen Retro-Sounds aus analogen Tasten-, Steuer-, Fieps- und Regelinstrumenten. 
 
Genau so sollte man sich diesem Album nähern!
 
Waren Martins Demos zu früheren Zeiten recht nah am Endprodukt, sind die neueren Demos ein eindeutiges Zeugnis, dass hier eine Band am Werk ist, die gemeinsam aus sparsam gehaltenen Ideen ziemlich große Songs machen kann. Sie bewahren sich eine Experimentierfreude, die bei Bands ihres nahezu biblischen Alters ihresgleichen sucht.

Daraus entstehen dann solche Perlen wie die spannungsgeladene Opener-Oper „In Chains“, die rockige und rumpelige Vorabsingle „Wrong“ und das wunderschöne Duett „Little Soul“. Dazu der ganz bewusst genau in der Mitte der Platte platzierte Gospel „Peace“, sowie der unwiderstehliche Bossanova vom zerbrechlichen „Jezebel“. Wer sich bei "Jezebel" an den Song "Magic Fly" der Gruppe Space aus dem Jahre 1977 erinnert fühlt, ist schon auf dem richtigen Weg. Genau damit ist "the key of space" gemeint!
 
  
Das alles wird umrahmt von unwiderstehlich leichten Popsongs wie „Fragile Tension“,„In Sympathy“ oder „Perfect“. Gemeinsam gelingt es ihnen dieses Mal besser, die Dave-Kompositionen knapp auf Band-Niveau zu heben, insbesondere „Miles Away/The Truth Is" oder das oft geschmähte "Hole To Feed“ mitsamt dem schrillen Video. 

Der majestätisch-bluesende Rausschmeißer „Corrupt“ schaffte es als eine der wenigen Nicht-Singles nach langen acht Jahren in die Setlist der "Global Spirit Tour", und auch die für Depeche Mode üblichen kleinen Gimmicks wurden dieses Mal nicht vergessen, wie das atmosphärische Himmelsmantra "Spacewalker". 
 
Anders, als bei früheren Depeche Mode Alben, verlassen sie hier ihren bewährten konzeptionell-lyrischen Ansatz. Thematisch ist diese Platte wesentlich breiter aufgestellt, als die meisten ihrer Vorgänger. So erahnt man zwar bei "In Chains" die dräuende Alkoholsucht, kann es aber genausogut als Abrechnung mit Martins ehemaligen Laster lesen. Das gänzlich neue "Wrong" beschreibt die Umstände eines ohne Selbsteinwirkung verpfuschten Lebens, quasi eines Schicksals. 
 
Selbst Dave verlässt kurz seine bewährte selbstreflektive Drogen-Aufarbeitung und umschreibt in ungewohnt komplexen Worten im Song "Hole To Feed" sein Coming Of Age und die üblicherweise damit einhergehenden körperlichen Neuentdeckungen. 

Bei "Fragile Tension" widmet sich Martin der ersten Liebe insgesamt. Danach nimmt er uns noch tiefer mit in die 70er Jahre. Zum einen in seine Kindheit und die damals wohl schon vorhandenen großen Ambitionen, die er uns in "Little Soul" schildert, zum anderen beschreibt er in "Peace" durch die Metaphern Religion, Kirche und allem, was damit zusammenhängt, die neu gewonnene Energie seiner Abstinenz als Erwachsener. Für alle, die an diesem Über-Song zweifeln, give "Peace" a chance!

Dave verarbeitet dann in "Come Back" zum bewährten Male seine Drogenvergangenheit und Martin huldigt in "Perfect" erneut dem Bruder Alkohol. "Miles Away/The Truth Is" bezieht sich auf Daves Erfahrungen mit diversen Substanzen, genau wie Martin in "Corrupt" das Thema nochmal aufmacht. Ihre Probleme scheinen sie hier jedoch schon bewältigt zu haben. Und so bleibt es "Jezebel", was mit dem Thema Prostitution erneut etwas aus dem Rahmen fällt.
 
Viele Fans waren damals verwundert, als Andy die "Sounds Of The Universe" dauernd mit der "Black Celebration" verglich. Oberflächlich betrachtet, fällt dies auch nicht direkt ins Auge. Schaut man sich die Herangehensweise der Band an die Produktion und insbesondere das durchgängige Soundschema dieser Platte genauer an, ist dies nicht überraschend. Der Vergleich mit "Black Celebration" ist also nicht aus der Luft gegriffen. In sich schlüssiger in ihrem Sound sind über eine gesamte Albumlänge nur wenige ihrer Werke. 

War es beim Nachfolgealbum der thematische und eher einfach gehaltene Blues, ist es hier der Space-Pop der 60er und 70er Jahre, der uns musikalisch durch das Album begleitet, und der von der Band auf ein modernes Niveau gehievt wird. Damit verbeugen sie sich tief vor ihrer eigenen Jugend, vor 70's Soul und Krautrock und ganz speziell ihren persönlichen Einflüssen. 
 
Ein Nutzer von laut.de schrieb damals zu „Sounds Of The Universe“: 
„Sie erinnern uns an das Älterwerden und an das Vergangene, welches nicht festzuhalten ist. Aber das ist die größte Stärke dieser Band, sie wärmt nicht liebgewonnene Vergangenheiten auf, sondern sie gehen weiter, egal ob dies an alte Glanzzeiten anschließt oder nicht.“
 
Mit „Sounds Of The Universe“ legten sie ein beeidruckend homogenes Album vor, für das es sich lohnt, sich richtig viel Zeit zu nehmen, sich zurückzulehnen, intensiv und vor allem mehrfach zuzuhören, die analoge und leicht antiquierte Schönheit zu entdecken und es als gesamtes Kunstwerk zu genießen. Der DTS Surround Mix eignet sich dazu ganz besonders. 

Ein Meisterwerk, was seinesgleichen sucht. There's something magical in the air ...
 
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(STX)
Fotos/Videos: Discogs, YouTube, Anton Corbijn

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