"Everybody's Looking For A Reason To Live..." - Depeche Cool im Doppelpack

Einst von uns innig geliebt, dabei nahezu zu Tode geduldelt. Legendär aufgemacht im Quasi-Briefumschlag-Cover mit dem beeindruckenden Bilderbuch von Anton Corbijn, erst in voller Vinylgöße seinen kompletten Charme offenbarend. 
 
Ich hatte sie mir nach der Wende sogar zweimal gekauft, um die stilsicheren Fotos aus dem schwarzen Begleitheft als Galerie der vier Meister hübsch zu rahmen und mit weißem Passepartout im nun-nicht-mehr-Kinderzimmer aufzuhängen. 
 
"101" war das erste Livealbum und gleichzeitig auch das erste Doppelalbum von Depeche Mode.

 
Unser Hunger nach Liverversionen stieg unaufhörlich, seit die Band begonnen hatte, ihre Songs regelmäßig in ihrer cooleren, "livehaftigen" Inkarnation zu veröffentlichen. 
 
Egal, ob auf den limitierten 1983er Maxis im schmucken Einheitsdesign oder auf der "Blasphemous Rumours" Maxi mit den ordentlich aufgehübschten Versionen der "Some Great Reward", von denen sogar zwei Jahre später noch ein paar Hits auf dem limitierten "A Question Of Lust" 12-Zoller erschienen. 

Völlig egal war es uns dabei, ob es eine mit einem Remix verheiratete Liveversion war, wie bei "A Question Of Time", oder ob es sich um ziemlich miserable Bootlegaufnahmen von kompletten Livekonzerten auf tausendfach überspielten und verrauschten Kassetten handelte. Sie waren halt einfach cool.

Die geplante Liveplatte zur "Black Celebration Tour" mit dem kolportierten Arbeitstitel  "A Brief Period Of Rejoicing", für die 1986 ganze vier Konzerte mitgeschnitten wurden, wurde von der Zeit und dem Arbeitstempo der Band überholt und zugunsten des wesentlich prestigeträchtigeren Drumherum einer "101" am Ende ganz verworfen. 
 
Die Idee, dass ein etwas aus der Zeit gefallener Filmemacher aus den 60ern eine Band filmt, die Musik macht, mit der er nix anfangen kann, das Ganze noch in ein baufälliges Stadion zu packen, was seine besten Zeiten hinter sich hat, das hat Schneid. In dem Film zusätzlich Fans mitspielen zu lassen, war ein genialer Einfall von Regisseur D.A.Pennebaker. Begründete er damit doch glatt das populäre Genre des Reality-TV. 
 
Anton Corbijn machte es sich beim Coverdesign einfacher, er fotografiert so einfach wie genial einen Merch-Stand. Cool. 
 
Ganz knapp vor der Wende, im Sommerurlaub 1989, bekam ich eine originale Intercord-Kassette von einem Freund aus der Bundesrepublik geschenkt. Was für eine Rarität damals im Osten! Sie ruhte in einer durchsichtigen Hülle. Das Inlay ließ sich zig mal auffalten, und dort fand man sie, die extracoolen Corbijn-Fotos. Cool!
 
Diese Kassette lief und lief und lief rund um die Uhr, und natürlich musste sie gleich allen überspielt werden. Glücklicherweise gab es bei meinen Eltern so einen raren Kassettenrecorder mit zwei Laufwerken, im Volksmund "Doppeldeck" genannt. Der war auch unabhängig von der "101" ein steter Garant für rund-um-die-Uhr Besuch.
 
Leider passte die "101" in ihrer vollen Pracht nicht auf eine 90-Minuten-Kassette aus dem Intershop. Dazu war sie etwas zu lang. Wer sich die "101" von Platte auf die Kassette zog, hatte dieses Problem nicht, waren doch da sowieso drei Songs weniger drauf. Wir mussten also immer mindestens ein Lied weglassen. Eine schwere Entscheidung für jeden Einzelnen. Auf welchen Song sollte man also verzichten? Einen der Nicht-Singles? Einen Klassiker? Eine Gewissensprüfung! 
 
Bis heute beschränken sich die meisten Texte zu "101" auf den gleichnamigen und gleichzeitig erschienenen Film. Erstmalig konkret mit dem Wissen um ein Livealbum wurde es für uns, als Dave und Alan bei unserem montäglichen Pflichtprogramm "Live aus dem Schlachthof" von einem Kinofilm samt Schallplatte sprachen. "Wonno One"? Was soll denn das heißen? Hatten wir uns verhört? Wir wurden nervös.

Das Interview wurde von Benny Schnier geführt, der damals mehr durch den Hund "Wuschel" und seinen Hitparaden-Kracher "Skateboard uh ah ah" bekannt war. 
In den Tiefen des Internets ist das Interview kaum in voller Länge zu finden, genauso wie das kurze Video zu "Everything Counts Live", der Radioversion. Man beachte auch seine unvergleichliche Aussprache des Bandnamens.
 

Richtig sauer wurden wir jedenfalls, als uns klar wurde, das wir weder Film noch Platte regulär zu sehen oder zu hören bekämen. Wer hatte damals schon Video? Bis zu den ersten verrauschten Tapes dürften gut mehrere Wochen vergehen. Nicht cool!

Den Film konnten wir dann doch noch mit viel Glück im Spätsommer 1989 genießen. Von einem zigfach überspielten, vergrieselten VHS-Tape im Kinderzimmer einer Freundin aus dem Neubaugebiet. Auf ihrem mini Schwarz-Weiß-Fernseher erzählten uns die Fans und die Band von ihrer 1988er US-Tour. Ohne Untertitel zündeten leider nicht alle Pointen, denn trotz unserem oxfordnahen Schulenglisch haben wir fast nichts verstanden. So labten wir uns lediglich ausgiebig an den vergrieselten Liveszenen. Deutsche Untertitel haben es ja selbst 2003 nicht mit auf den DVD-Release geschafft. Später behalfen wir uns mit dem untertitelten Videomitschnitt von ARTE, und es offenbarten sich uns die weiteren dunklen Geheimnisse. Neidisch auf die Kids im Film war man ja sowieso! Einmal quer durch die USA, dazu noch mit unser aller Lieblingsband. Wer träumte nicht davon?  
 
Hat vielleicht gerade deshalb die Platte bei uns einen wesentlich höheren Stellenwert als der Film? Beschränken wir uns also auf die Musik.
 
Bereits beim reichlich coolen Intro "Pimpf" bekamen wir ein vages Gefühl dafür, wie es den paar DDR-Kids ergangen sein muss, die knapp ein Jahr zuvor in der Werner-Seelenbinder-Halle standen, staunten, vor Ehrfurcht erstarrten, oder kollektiv ausflippten. Sogar wenn man weiß, man hört hier ein gänzlich anderes Publikum, kann man förmlich spüren, wann bei "Behind The Wheel" der Vorhang fällt. 
 
Ein Hit jagt den nächsten. "Strangelove", "Something To Do", "Blasphemous Rumours". Ein wahrhafter Gemischtwarenladen der Über-Hits der ersten Bandjahre. Das eigentlich noch dazwischen gepresste "Sacred" fehlt auf der LP, wurde aber für die Vinylhörer mit auf die Maxi zu "Everything Counts Live" gepresst. 


Dann folgt das immer und immer wieder zum Niederknien animierende "Stripped", was auf der "101" wohl in der coolsten je aufgenommenen Version zu hören ist und es beginnt Martins Teil der Show. 

Das schmachtende "Somebody" beeidruckte live stets mit einem kleinen Schlenker am Schluss, der dieses Mal wieder völlig anders ausfällt, als wir das von der 1984er Liveversion der "Blasphemous Rumours"-Maxi kannten. "The Things You Said" ist schon auf der regulären Platte einer der besten Songs und zündet live nochmal einen extra-Turbo. Da sind wir gerade mal bei der Hälfte angekommen.

"Black Celebration" war nie eine Single, ist aber bis heute ein unverzichtbares Manifest der endgültigen schwarzledernen Vercoolung Depeche Modes. Cooler wird's nicht! Die Platte mündet in ihren Hitteil. 
 
Mit "Shake The Disease" nimmt man langsam wieder Fahrt auf, um danach mit "Nothing" (erneut nur auf CD, MC und der "Everything Counts Live" Maxi) und mit "Pleasure Little Treasure" (einer B-Seite!) in den Tanzmodus zu schalten. Ein letztmalig aufgeführtes "People Are People", gefolgt vom rockigen "A Question Of Time" und dem taufrischen Armeschwenker "Never Let Me Down Again" beenden den bewegungsintensiven Hauptteil des Sets. 

Zur Eröffnung des Zugabenparts folgt "A Question Of Lust", was es wieder nur auf den Extra-Formaten gibt. Mit "Master And Servant", dem damals von uns noch als relativ cool empfundenen "Just Can't Get Enough", und dem zum zweiten Mal als eine Single und erstmals als eine Live-Single ausgekoppelten "Everything Counts", bekommt die schwarze runde Scheibe einen krönenden runden Abschluss. Schuldisko galore!
 
Selbst der DDR-Rundfunk mühte sich redlich um die von ihm so genannten „DeMo"-Fans (sic!). "Everything Counts Live" schaffte es bis in die Sendung „Mobil Popradio“, wo der nach Lesart der DDR „systemkonforme“ weil kapitalismuskritische Text vorgestellt wurde. Den konnte man dann per Post bestellen.

Bei meinen Recherchen habe ich u.a. herausgefunden, dass Enyas „Orinoco Flow“ nicht in der Sendung vorgestellt werden durfte, da es zu viele Reisebegehrlichkeiten bei den DDR-Bürgern hätte wecken können. 
 
Den von Moderator Günter Schneidewind wohl einzeln handgetippten Text zu "Everything Counts" habe ich in meinem liebevoll gepflegten Archiv leider nicht mehr gefunden. Ich meine, ich habe damals sogar eine Absage bekommen, da die Nachfrage danach so groß war. Lediglich The Cures "Lullaby" konnte ich noch auftreiben.  

Kurz vor den Remastered Versionen der restlichen Depeche Mode Alben, erschien 2005 eine SACD mit einem 5.1-Mix des beeindruckenden Live-Manifests "101". Leider ist in der Erstauflage ein Codierungsfehler, so dass man zum reibungslosen Abspielen nur die Stereo-Spur hören kann oder besser gleich nach der überarbeiteten Version suchen sollte. Hier unbedingt aufpassen beim Preis. Wer auf eine haptische CD verzichten kann, findet in der BluRay-Box von 2021 auch einen mehrspurigen und hochauflösenden Audio-Download.

Beim jährlich stattfindenden Musikfestival von San Remo beeidruckten die Jungs von Depeche Mode 1989 mit einem Promoauftritt, bei dem die „Live“-Version von "Everything Counts" als Vollplayback (sic!) vorgetragen wird. Das beweist wieder einmal eindrücklich, dass die Jungs richtig Humor haben.
 
 
Für Viele blieb "101" etliche Jahre ihr cooler Soundtrack. Spätestens bis in den Winter hinein begleitete uns "101" intensivst, lediglich getoppt und abgelöst von der im März 1990 erschienenen, noch cooleren "Violator". Es überstand die Intermezzos dazwischen, wie Martins erster cooler Soloscheibe und dem damals für unsere popmusiktrainierten Ohren etwas gewöhnungsbedürftigen "Personal Jesus".

Das im Studio doch leicht nachbearbeitete Live-Dokument, bildet den Abschluss der "alten" und "frühen" Depeche Mode der 80er Jahre. Danach beschritten sie völlig andere Wege. Genau aus diesem Grund wird diese Platte von Vielen bis heute als nahezu heilig empfunden, fasst sie doch alle Hits der ersten Bandjahre kompakt und cool zusammen.
 
Damals war es wirklich extrem cool, ein Depeche Mode Fan zu sein. Es war cool, dass uns diese Platte selbst zu richtig coolen Typen machte. "101" war zu ihrer Zeit einfach das coolste, was man von den Jungs bis dato zu hören bekam. Ein Greatest Hits Album in cool, sowohl in der Aufmachung, als auch im brachialen Sound ihrer Liveshows. Damals hätten wir uns nie träumen lassen, jemals eine davon sehen zu dürfen. 
 
Dann konnten wir plötzlich doch. Cool!
 
#haf_investigativ #diehafplattenkritik #senfdazu #vielmeinungwenigahnung #lindapleaseunblockme
 
(stx) 
Fotos/Videos: Discogs, YouTube
 

 

Kommentare

Beliebte Posts